Niemand kann mir vorwerfen, auf zu vielen Hochzeiten getanzt zu haben. Ich kann nämlich gar nicht tanzen. Für koordinierte Körperbewegungen hatte ich nie ein übermäßiges Talent, aber die Freude am Tanzen war auch bei den meisten meiner Altersgenossen damals im typischen Tanzkurs-Alter nicht die Hauptmotivation, einen Tanzkurs zu besuchen. Aber Mädchen haben mich noch weniger interessiert.
Es war die Zeit, als ich anfing, mein Außenseiterdasein nicht nur als Fluch sondern auch als Gabe zu verstehen, als ich anfing zu begreifen, dass anders auch besser heißen kann, und dass es legitim, manchmal sogar erstrebenswert ist, gegen den Strom zu schwimmen. Den Verzicht auf einen Tanzkurs verkündete ich mit Würde und einem guten Schuss Überheblichkeit. Das mangelnde Interesse am anderen Geschlecht ließ sich erfolgreich als moralische Standhaftigkeit verkaufen, was bestimmt vielfach belächelt, von meinen Freunden aber durchaus auch respektiert wurde. Die starken Gefühle für Jungs hatte ich tief in den Giftschrank meiner Seele gesperrt.
Dieses Gefängnis hielt lange dicht. Wenige Jahre später war ich heftig verliebt und konnte immer noch nicht begreifen, welche Gefühle es waren, die mich da überfielen, denn dass ich mich als Mann in einen Mann verliebe, kann ja nicht sein. Als dieser Mann später eine Frau heiratete, waren diese Gefühle schon wieder verflogen, aber die Schemas in meinem Kopf waren noch sehr verfestigt: Als Mann heiratet man eine Frau – alles andere ist unchristlich und unmoralisch. Die Hochzeit war sehr leger. Schon zum Kaffee trug niemand mehr eine Krawatte, die gemeinsamen Hochzeitsfotos entstanden an einem Badesee in unmittelbarer Nähe des FKK-Bereichs. Die „So etwas macht man nicht“-Stimme in mir erlitt eine bedeutende Niederlage.
Etwa zu dieser Zeit brach das Gefängnis in meiner Seele so langsam auf, und was ihr dadurch an verdrängten und verleugneten Gefühlen entstieg, brachte mich in große Bedrängnis: Wie sollte ich als schwuler Christ leben? Eine der Alternativen war damals, hetero zu werden. Es gab Hilfsangebote mit dieser Perspektive und Beispiele angeblich erfolgreicher „Heilungen“. Es gab aber auch das tief verwurzelte Bewusstsein in mir, dass so etwas nicht möglich ist. Irgendwann gab ich dem geistlichen Druck nach machte das Unmögliche zu meiner Perspektive: „Therapie“ und anschließend eine hoffentlich glückliche Ehe mit einer Frau.
Damals fühlte sich diese Perspektive wie eine Befreiung an. Ich hatte wieder Hoffnung, eine vergebliche Hoffnung zwar, aber immer noch viel besser als die Hoffnungslosigkeit, die mich davor gequält hatte. In diese Zeit fällt die Hochzeit eines Freundes, in den ich auch zuvor verliebt war. Was eine schlimme Erfahrung hätte werden können, wurde auch für mich zu einem wunderschönen Fest, weil meine Hoffnung auf „Heilung“ sie zu einem Vorgeschmack auf meine eigene Hochzeit machte.
Die ganzen „Therapien“ sind natürlich, was die Veränderung der sexuellen Orientierung betrifft, völlig wirkungslos, die Heilungsversprechen beruhen auf Lüge und Selbstbetrug. Hat Gott mir damals eine Lüge erzählt, um mir Hoffnung zu geben? Vielleicht war ich einfach damals noch viel zu gefangen in Vorurteilen und zerstörerischer Theologie, um die Wahrheit anzunehmen. Vielleicht fand Gott es besser, dass ich mit einer Lüge weiterlebe, statt an der Wahrheit zu zerbrechen. Jedenfalls wusste Gott es zu verhindern, dass ich zu tief in dieses Lügengebilde einsteige, dass ich mich zu sehr auf diese zerstörerischen Therapieangebote einlasse. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Viele Jahre sind seither vergangen. Gestern durfte ich einer wunderschönen kirchlichen Trauung beiwohnen. Der Gottesdienst war sehr persönlich, fast intim gestaltet, was ihn aber nicht weniger festlich machte. Die Brautleute verlasen selbst geschriebene Treueversprechen, die von tiefer Liebe zueinander zeugten. Und natürlich bewegte mich die Frage: Stehe ich auch irgendwann mal da vorne, an der Seite eines Mannes, für den ich, und der für mich die gleichen Gefühle empfindet, wie sie das Brautpaar so wunderschön ausdrückten?
Das Brautpaar gestern war jung. Ich bin es nicht mehr. Stattdessen habe ich schon ein halbes Leben voller irregeleiteter und vergeblicher Hoffnungen hinter mir, gerade was das Thema Beziehungen und Hochzeit und Ehe betrifft. Eine fiese, kleine Stimme in mir erklärt mich zum hoffnungslosen Fall. Aber die Hoffnung, selbst einmal als glücklicher Bräutigam am Altar zu stehen, ist noch da, ist vielleicht lebendiger denn je. Ich werde nicht auf diese fiese, kleine Stimme in mir hören. Ich werde an dieser Hoffnung festhalten.