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Bibel-Positivismus

Veröffentlicht am

Eine der philosophischen Grundlagen des modernen Rechtsstaats ist der Rechtspositivismus. Er besagt, kurz gesagt, dass Recht ist, was im Gesetz steht, und nur was im Gesetz steht, und zielt damit in erster Linie auf Rechtssicherheit: Jeder kann (im Prinzip) selbst nachlesen, was erlaubt ist, und was ihn erwartet, wenn er sich nicht daran hält. Der Rechtspositivismus schützt vor Willkür und fördert, dass alle Menschen dem Recht nach gleich behandelt werden. Er hat aber auch Grenzen. Das hat man am Ende des zweiten Weltkriegs festgestellt, denn die unfassbaren Verbrechen der Nazis waren häufig durch die Gesetze gedeckt.

Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch formulierte deshalb im Jahr 1946, dass auch entgegen geltender Gesetze entschieden werden müsse, wenn ihre Anwendung unerträglich ungerecht wäre oder wenn sie selbst die Grundzüge des Rechts verleugnen würden. Diese Radbruch’sche Formel klingt ziemlich unbestimmt, sie stellt, auf Fälle schlimmsten Unrechts begrenzt, zwar die alte Unsicherheit und die Gefahr der Willkür wieder her, ist aber eine offensichtlich notwendige Einschränkung des Rechtspositivismus und damit bis heute Bestandteil der Rechtssprechung der obersten Gerichte.

Warum ich das so ausführlich schildere? Weil viele Christen die Bibel genauso behandeln wie der Rechtspositivismus das Gesetz: Christliche Lehre ist, was in der Bibel steht, und nur, was in der Bibel steht. So wie der Jurist die Antworten zu allen Rechtsfragen im Gesetz suchen muss, suchen diese Christen die Antworten zu allen Glaubens- und Lebensfragen in der Bibel. Analog zum Rechtspositivismus kann man diese Haltung als Bibel-Positivismus bezeichnen, und Google sagt mir, dass ich nicht der erste bin, der diesen Begriff in diesem Sinne gebraucht.

Das Problem am Bibel-Positivismus: Er funktioniert nicht. Die Bibel ist kein Gesetzestext. Das merkt man, wenn man sich moderne Gesetzestexte anschaut: Sie sind bewusst mit der notwendigen Eindeutigkeit und der dazu leider auch oft notwendigen Fachsprachlichkeit formuliert. Gesetzestexte sind selten schön zu lesen, weil sie nicht schön zu lesen sein sollen, sondern weil sie im Sinne des Rechtspositivismus einen genau bestimmten Zweck erfüllen wollen und dazu in erster Linie eindeutig und bestimmt sein müssen.

Bibeltexte genügen diesen Ansprüchen grundsätzlich nicht. Die Bibel besteht in großen Teilen aus Erzählungen und aus Geschichtsschreibung, zwei Literaturgattungen, die wir heute streng unterscheiden, die aber in der Antike wesentlich näher beieinander lagen, und die beide für eine positivistische Auslegung ungeeignet sind. Andere Texte liefern konkrete Handlungsanweisungen, beziehen sich aber meist auf ebenso konkrete Situationen oder spezifische Probleme, so dass ihnen die nötige Allgemeingültigkeit fehlt, die für eine positivistische Auslegung erforderlich ist. Und für die Stellen im Alten Testament, die tatsächlich Gesetzesrang für sich beanspruchen, macht das Neue Testament sehr deutlich, dass sie mit diesem Anspruch für uns heute nicht mehr gültig sind.

Der Bibel-Positivismus legt die Bibel in einer Weise aus, für die sie weder gedacht noch geeignet ist. Er führt zuweilen durchaus zu richtigen Ergebnissen, aber ebenso oft in die Irre und nicht selten zu schlimmen Konsequenzen. Und die werden oft noch viel schlimmer, weil die Bibel-Positivisten kein theologisches Äquivalent zur Radbruch’schen Formel gelten lassen. Statt im unerträglichen Unrecht die Grenzen ihrer Bibelauslegung zu erkennen, wird das Unrecht zum Recht erklärt, weil es sich ja angeblich aus der Bibel ergibt. Beispiele, wie mit der Bibel in der Hand schlimmstes Unrecht begangen wurde, gibt es zu Genüge. Gerade geistlicher Missbrauch geschieht nicht selten mit biblischer Begründung.

Viele Bibel-positivistisch eingestellte Christen erinnern mich auch in ihrem Verhalten nicht an moderne, sorgfältig abwägende Juristen, sondern eher an klassische Westernhelden; der Typus, der schneller zieht als sein Schatten, nur halt nicht den Revolver sondern die Bibel, und der Bibelstellen statt Bleikugeln locker aus der Hüfte feuert. Übrigens trägt der klassische Westernheld auch immer einen weißen Hut, damit man ihn auch noch in der letzten Kino-Reihe leicht vom Bösewicht mit dem schwarzen Hut unterscheiden kann. Womit wir beim Kernproblem des Bibel-Positivismus angelangt sind: Es geht nicht um Recht und Unrecht, sondern um Gut und Böse. Und mit der Bibel In der Hand darf sich der Bibel-Positivist auf der Seite des Guten wähnen und es gegen das Böse verteidigen.

Wir leben aber nicht im Wilden Westen, Gott sei Dank. Denn der klassische Western ist ein guter Ort für Geschichten, aber war ein fürchterlicher Ort zum Leben. Dass Meinungsverschiedenheiten nicht mehr von Revolverhelden, sondern von Juristen und Gerichten geklärt werden, ist außerhalb von Literatur und Film ein gewaltiger Fortschritt. Der Bibel-Positivist wünscht sich in eine Zeit, in der Gut und Böse klar getrennt und einfach unterscheidbar sind, und übersieht, dass es eine solche Zeit außerhalb von Karl-May-Büchern nie gegeben hat.

Unsere Gesellschaft verändert sich rapide. Erklärung und Anerkennung der Menschenrechte, Ächtung des Krieges als Mittel der Politik und auch die Abschaffung der Todesstrafe in vielen Ländern sind vergleichsweise junge Entwicklungen, und selbst die Abschaffung und Ächtung der Sklaverei liegt zeitlich viel näher zu uns als selbst zu den jüngsten biblischen Texten. Das macht die Auslegung und Anwendung der Bibel für uns bedeutend schwieriger als für frühere Generationen. Andererseits ist heute ein Bildungsniveau selbstverständlich geworden, das früher nur gesellschaftlichen Eliten zugänglich war. Wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.

Leider hat der Bibel-Positivismus es geschafft, sich das Etikett bibeltreu anzuheften; eine Zuschreibung, die zwar gelegentlich abwertend verwendet, aber meist nicht in Zweifel gezogen wird. Ich halte das für falsch. Treue zur Bibel zeigt sich in der intensiven, auch kritischen Auseinandersetzung mit der Bibel, mit ihren zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Randbedingungen, mit Reichweite und Selbstverständnis biblischer Texte, mit Textzusammenhang und heilsgeschichtlichen Linien. Wer Christ ist, muss – im Rahmen seiner Möglichkeiten – immer auch ein kleiner Theologe sein.

Dem gegenüber steht der positivistische Gebrauch der Bibel, der die Bibel zitiert statt auslegt, der Antworten findet auf Fragen, die in der Bibel gar nicht behandelt werden, der die Bibel nicht als Offenbarung erforscht, sondern als Werkzeug gebraucht, der allzu häufig in der Beschäftigung mit Randfragen die Mitte der Schrift verliert. Der Bibel-Positivismus ist ein Missbrauch der Schrift, der die Gefahr des geistlichen Missbrauch von Menschen wesensmäßig in sich trägt. Eine solche Haltung ist nicht bibeltreu und sollte auch nicht so genannt werden.

Eine Antwort »

  1. somelionsomewitchsomewardrobe

    Jesus hat ein Pendant zur Radbruchschen Formel gegeben: Das Doppelgebot der Liebe. Darin sind alle anderen Gesetze enthalten.
    Wer Gottes Gebote also derart auslegt und „befolgt“, dass er lieblos handelt, der pervertiert und bricht tatsächlich Gottes Gebote, selbst wenn er sich auf irgendeinen Vers beruft.

    In der Realität sieht das leider anders aus: Wer am eigenen – nicht Gottes – Willen festhalten will, der definiert „Liebe“ so um, dass es wieder ins persönliche Weltbild passt und kann damit jede Härte, ja Grausamkeit rechtfertigen: „Tough Love“. Bei Hartherzigkeit ändern auch Jesu Worte über wahre Liebe nichts: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“

    Letzten Endes beschreibt das genau die Falle, in die die Pharisäer gelaufen sind: So vorbildlich schriftgelehrt (wie viele wohlmeinende evangelikale,Christen auch). So verhängnisvoll fehlgeleitet.

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