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Monatsarchiv: Februar 2017

Gleichgeschlechtliche Ehe als Lebensretter?

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Anfang der Woche wurde in JAMA Pediatrics, einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift für Kinderheilkunde, eine Studie veröffentlicht, die sich mit möglichen Zusammenhängen zwischen der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen und der Suizidrate bei Jugendlichen beschäftigt.

Bis zum Urteil des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2015 waren gleichgeschlechtliche Ehen in den verschiedenen Bundesstaaten der USA sehr unterschiedlich geregelt. Insbesondere wurden gleichgeschlechtliche Ehen in verschiedenen Staaten zu unterschiedlichen Zeiten anerkannt. Dies gab den Autoren der Studie die Gelegenheit, mögliche Folgen dieser Entscheidungen zu unterschiedlichen Zeiten, aber in Bevölkerungsgruppen mit vergleichsweise geringen kulturellen Unterschieden und mit vergleichbarem Bildungssystem zu untersuchen. Dazu wurden in den Jahren von 1999 bis 2015 insgesamt 762.678 High-School-Schüler befragt.

Die Studie kommt zum Ergebnis, dass die staatliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen einhergeht mit einer Reduzierung von Suizidversuchen von 7 % bei allen Schülern und sogar 14 % bei Schülern, die einer sexuellen Minderheit angehören. Wenn man bedenkt, dass Suizid in der untersuchten Altersklasse eine der häufigsten Todesursachen ist, sind das beeindruckende Zahlen.

Die Studie verzichtet darauf, nach ursächlichen Zusammenhängen zu suchen, und liefert erst einmal wissenschaftlich aufbereitete, statistische Zahlen. Sie zeigt eine Korrelation und keine Kausalität, und die Autoren halten aufgrund ihrer Ergebnisse weitergehende Untersuchungen für geboten, die sich mit möglichen kausalen Zusammenhängen befassen sollen.

Für mich persönlich ist es allerdings völlig plausibel, dass hier kausale Zusammenhänge bestehen. Ein Rollenmodell einer gleichgeschlechtlichen Beziehung als tatsächliche Option für mein Leben hat mir als Jugendlichem völlig gefehlt. Es ist natürlich schwer, aus 25 bis 30 Jahren Abstand zu erraten, was für mich damals hätte anders laufen können. Trotzdem kann ich mir sicher sein: Es wäre mir viel Leid, Verwirrung und auch Verzweiflung erspart geblieben, hätte ich meine sexuelle Orientierung schon als Jugendlicher erkennen und mich dazu bekennen können. Und die gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen hätte mir das ohne Zweifel ermöglicht.

Die konkrete Suizidgefahr kam bei mir erst später und aus einer anderen Richtung, nämlich aus dem Konflikt meiner (mittlerweile erkannten und bekannten) sexuellen Orientierung und dem, was ich für christliche Lehre, ja für Gottes Willen gehalten habe. Aber gerade in den USA spielt der christliche Glaube in vielen Teilen des Landes eine große Rolle, und vielleicht gibt es auch gerade hier Zusammenhänge, die ursächlich für die erwähnten, statistischen Ergebnisse sind.

Es gibt ja immer noch Leute, die glauben, dass Homosexualität eine Krankheit sei, oder das gleichgeschlechtliche Beziehung den Menschen, die sie führen, körperlichen oder psychischen Schaden zufügen. Aber mit jeder Studie, mit jeder Veröffentlichung in diesem Themenkreis erweitert sich das Bild, wie die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen Menschen Schaden zufügt. Menschen werden nicht psychisch oder körperlich krank, weil sie schwul oder lesbisch sind. Menschen werden psychisch oder körperlich krank, weil ihnen ihr Umfeld, also die Gesellschaft als ganze oder im Kleinen Schaden zufügt. Weil jede Ablehnung, jede Verweigerung von Rechten, von Normalität das Selbstbild, das Selbstwertgefühl beschädigt. Wenn einem von allen Seiten die Anerkennung als vollwertiger Mensch verweigert wird, glaubt man zwangsläufig selbst, ein minderwertiger Mensch zu sein. Und ich habe hier noch nicht einmal angefangen, von echter Diskriminierung oder gar von Mobbing zu reden.

Wissenschaftliche Erkenntnis entwickelt sich langsam, und jede einzelne Studie ist immer nur ein kleiner Schritt in diesem Erkenntnisprozess. Die aktuelle Studie aus JAMA Pedriatics liefert keine Beweise, dass die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu Suiziden führt. Aber sie liefert klare Indizien, dass hier ein Zusammenhang bestehen könnte.

Im Bezug auf die chemischen Bestandteile in unserer Nahrung werden schon beim Verdacht einer schädlichen Wirkung strenge Grenzwerte gefordert und vielfach auch durchgesetzt. Auch wenn die gesellschaftliche Diskussion hier gelegentlich eher von Panikmache als von wissenschaftlicher Erkenntnis geprägt ist: Die Vorsicht ist berechtigt: Schon zu viele für harmlos gehaltene Substanzen haben sich im Nachhinein als hochgradig gesundheitsschädlich herausgestellt. Es bleibt nichts anderes übrig, als schon bei einem berechtigten Verdacht einer schädlichen Wirkung zu reagieren. Zu warten, bis der Schaden offensichtlich und wissenschaftlich bewiesen ist, wäre unverantwortlich.

Wie nicht nur die gerade veröffentlichte Studie zeigt: Es gibt den berechtigten Verdacht, dass die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Ehen tatsächlich Menschenleben rettet. Ist es noch zu verantworten, hier auf klare, wissenschaftliche Beweise zu warten?

Genus und Gender

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Die deutsche Sprache kennt drei grammatikalische Geschlechter: Maskulinum, Femininum und Neutrum. Was sie daraus macht, ist nicht immer logisch und bei weitem nicht immer sachgerecht. Schon Mark Twain hat sich darüber beschwert, dass Mädchen nach der deutschen Grammatik nicht weiblich sein dürfen. Das sorgt für Verwirrung und viele als falsch angestrichene Pronomina in Schüleraufsätzen, aber letztlich handelt es sich dabei um eine grammatikalische Kuriosität.

Aber Sprache besteht nicht nur aus der Einhaltung von Grammatikregeln. Sprache drückt Gedanken, Meinungen und Tatsachen aus. Sprache erzeugt immer auch Wirkung, davon ist die Grammatik nicht ausgenommen. Und wer sich als deutsch Sprechender oder Schreibender dieser Wirkung bewusst ist, stolpert immer wieder über die Besonderheiten der deutschen Sprache, gerade wenn es um Menschen unterschiedlicher geschlechtlicher Identität geht.

Größtes und bekanntestes Übel ist da sicherlich das generische Maskulinum. Schreibt man zum Beispiel von einem Lehrer, denken die meisten Leser an einen männlichen Angehörigen dieser Berufsgruppe, denn ansonsten würde man die Bezeichnung Lehrerin erwarten. Trotzdem soll der Begriff auch herhalten, wenn von einer Gruppe mit gemischter Zusammensetzung die Rede ist, oder wenn man nur allgemein von einem Mitglied des Lehrerkollegiums schreiben will. In beiden Fällen schließt nach den Regeln der deutschen Grammatik das Wort Lehrer ausdrücklich auch weibliche Personen mit ein.

Das ist zunächst unhandlich, aber es ist auch bedeutend mehr. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Frauen häufig trotz gleicher Qualifikation und Aufgaben weniger verdienen als Männer, in der sie oft auch weniger berufliche Möglichkeiten und Aufstiegschancen haben, und wenn eine Führungskraft weiblich ist, spielen für viele Medien Frisur und Kleidung eine größere Rolle als Programme und Entscheidungen. Das generische Maskulinum ist zugleich Ausdruck und Verfestigung dieser gesellschaftlichen Realitäten.

Bei manchen Begriffen finden sich mehr der minder brauchbare Ersatzwörter. Ich habe schon die Bezeichnung Mitglied des Lehrerkollegiums verwendet, kürzer und allgemeiner kann man geschlechtsneutral von der Lehrkraft schreiben. Aus dem Studenten wird der Studierende, beim Schüler wird es schon deutlich schwieriger. Dann gibt es die Lösungen mit Binnenmajuskel (SchülerIn), Gendergap (Schüler_in) und Gendersternchen (Schüler*in). Das sind gute Ideen für Texte, die ohnehin naturgemäß sperrig zu lesen sind, wie Formulare, Verordnungen, Satzungen usw., aber sie haben keine Entsprechung im gesprochenen Wort und stören deshalb auch in geschriebenen Texten den Lesefluss. Der Physiker Martin Bäker verwendet in vielen seiner Blogeinträge ausschließlich weibliche Wortformen und Pronomina, und zwar selbst wenn es um eindeutig männliche Personen geht. Das ist zunächst sehr ungewohnt, aber schon nach kurzer Zeit sehr flüssig zu lesen. Das ist aber auch eine sehr radikale Maßnahme und in sich wiederum auch alles andere als geschlechtergerecht.

Noch schwieriger wird es bei Personen, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen. Auch wenn es sich dabei nur um eine Minderheit handelt: Sprache erzeugt Wirkung, und eine Sprache, die eine Minderheit ausschließt und letztlich als nicht existent darstellt, diskriminiert und gefährdet diese Minderheit. Und genau das tut die deutsche Sprache leider: Wer sich nicht als männlich oder weiblich einsortieren kann, wird zur Sache degradiert. Das ist grausam. Gendergap und Gendersternchen wurden erfunden, um diesen Missstand ein wenig abzuhelfen. Sie können aber nicht darüber hinweg täuschen, dass sich das Problem nicht ohne einen gravierenden Umbau der deutschen Grammatik lösen lässt, einen Umbau, der zwangsläufig in scharfem Gegensatz zum Sprachgefühl der meisten deutsch sprechenden Menschen stehen wird.

Und damit sind wir beim Kern: Sprache ist Gefühlssache. Weil die meisten Menschen die Entscheidung, was standardsprachlich richtig oder falsch ist, nach dem Gefühl treffen, und nicht aufgrund von auswendig gelernten Grammatikregeln. Sie ist aber auch Gefühlssache, weil Sprache Heimat gibt. Sprachkenntnisse sind nicht ohne Grund eines der wichtigsten Maße für eine gelungene Integration von Migranten. Sprache ermöglich, miteinander zu reden, sich auszutauschen, Gedanken und Meinungen weiterzugeben. Sie vermittelt das Gefühl von Teilhabe und Zugehörigkeit.

Geschlechtergerechte Sprache ist einerseits notwendig, um allen Menschen, unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität, dieses Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit zu vermitteln. Geschlechtergerechte Sprache ist aber gleichzeitig eine künstliche, vielleicht sogar verordnete Veränderung einer existierenden, lebendigen Sprache, und für alle, die diese Sprache mit all ihren bestehenden Regeln verinnerlicht haben, ist jede Änderung ein Stück Verlust von Heimat und Zugehörigkeit. Es ist leider so: Die deutsche Sprache ist derzeit nicht in der Lage, allen ihren Sprechern eine wirkliche Heimat zu bieten.

Das heißt nicht, dass es so bleiben muss. Wer öffentlich schreibt oder redet, sollte sich dieses Problems bewusst sein und stets versuchen, den persönlichen Anteil zur Lösung beizutragen. Lebendige Sprachen sind beständigen Veränderungen unterworfen, die allerdings nicht zufällig geschehen. Es muss unser Ziel sein, unsere gemeinsame Sprache langsam und behutsam zu einer größeren Integrationsfähigkeit aller ihrer Sprecher weiterzuentwickeln.

Bis es soweit ist, leben wir vom Kompromiss und vom gegenseitigen Respekt. Die Entscheidung für eine eher geschlechtergerechte oder eher traditionelle Sprache kann nur abhängig von Textgattung und Zielgruppe getroffen werden, und sie muss auch abhängig vom jeweiligen Autor bleiben dürfen, denn Schreiben ist eine persönliche Ausdrucksform und muss das eigene, persönliche Sprachgefühl widerspiegeln. Den Willen zur integrativen Sprache halte ich für eine moralische Pflicht. Die Verurteilung des anderen, nur weil er oder sie bei dieser Abwägung zu einem anderen Ergebnis kommt als man selbst, halte ich für eine moralische Verfehlung.