Verheißung oder Vertröstung

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Wenn es stimmt, dass es ein Leben nach dem Tod gibt (und davon gehe ich aus), dann ist die Frage, was nach dem Tod mit uns passiert, wichtiger als die Frage, was vor dem Tod mit uns passiert. Ich halte das – zumindest aus christlicher Sicht – für ziemlich offensichtlich, und ich denke, das biblische Zeugnis geht in dieselbe Richtung. Auch wenn ich glaube, das viele der Bibelstellen, die klassisch im Hinblick auf das Jenseits ausgelegt werden, sich eher auf das Diesseits beziehen.

Genauso offensichtlich ist, dass die christliche Kirchen vielfach die Botschaft vom Jenseits nicht als Verheißung verkündet, sondern als Vertröstung missbraucht hat. Ein wesentliches Ziel war und ist, ungerechte Machtstrukturen zu bewahren oder zu verstärken und Menschen in Armut und Abhängigkeit zu halten, um sie besser ausbeuten zu können.

Wie glaubwürdig ist die christliche Botschaft vom Jenseits? Sie kann ihre Glaubwürdigkeit definitiv nicht aus sich selbst beziehen, denn der Tod stellt eine unüberwindbare Schranke dar: Nichts von dem, was nach dem Tod passiert, kann in irgend einer Form vor dem Tod nachvollzogen oder gar überprüft werden.

Die Urgemeinde bezog ihre Glaubwürdigkeit tatsächlich aus einer anderen Quelle, nämlich aus ihrem Verhalten im Diesseits. Taten sprechen bekanntlich lauter als Worte, aber Taten sind nur im Hier und Jetzt möglich. Und diese Taten gab es durch die frühen Christen mehr als reichlich, manchmal über jedes vernünftige Maß hinaus. Zum Beispiel hatte die erste bewusste Entscheidung über kirchliche Strukturen (Apg. 6) die Sicherstellung der Armenversorgung zum Ziel. Beim Blick auf kirchliche Struktur-Diskussionen heute erahnt man, wie weit sich die organisierte Gemeinschaft der Christen vielfach von den Werten der Urgemeinde entfernt hat.

Als Folge ihres Verhaltens fanden die ersten Christen Wohlwollen beim ganzen Volk, wie es die Apostelgeschichte bezeugt. Dieses Wohlwollen, das mit konkreten Handlungen erworben und verdient wird, ist die Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft gerade in den Bereichen, die sich der Nachprüfung entziehen, sie ist die Vorbedingung für die Predigt vom Jenseits. Wer im Diesseits die Anerkennung und den Respekt seiner nichtchristlichen Nachbarn und Freunde genießt, darf gern von der zukünftigen Welt schwärmen. Wer sein Christsein in Konfrontation und Abgrenzung lebt, kann sich die Predigt von ewiger Erlösung oder ewiger Verdammnis sonst wohin stecken.

Anlass für diese deutlichen Worte ist der „Ixthys“-Imbiss in der Schöneberger Pallasstraße. Es liegt im Berliner Nollendorfkiez, einem bedeutenden Lesben- und Schwulenviertel mit hundertjähriger Geschichte und Tradition. Selbst die Nazis und deren von der frühen Bundesrepublik fast nahtlos fortgeführten Homophobie konnten das Queere in diesem Viertel zwar vorübergehend ersticken, aber nicht dauerhaft auslöschen. Die Betreiberin des „Ixthys“ hat sich entschieden, in dieser Umgebung einen Imbiss zu eröffnen und über und über mit Bibelversen zu dekorieren.

Mein Geschmack ist das definitiv nicht, aber darum geht es mir nicht, sondern darum, dass sie sich auch entschieden hat, ausgerechnet in dieser Umgebung ausgerechnet die schwulenfeindlichsten Bibelverse von außen sichtbar ins Schaufenster zu stellen. Das ist keine Tat christlicher Nächstenliebe, sondern ein Akt purer Aggression und etwa auf dem geistigen und moralischen Niveau der Leute, die neben einen bestehenden Kindergarten ziehen und sich anschließend über den „Kinderlärm“ beklagen.

Dass das jetzt zu strafrechtlichen Ermittlungen wegen Volksverhetzung geführt hat, ist vielleicht in der Sache nicht zielführend, aber keinesfalls überraschend. Natürlich schreien nun viele Christen, dass das Christenverfolgung sei. Sie verkennen dabei, dass die ersten Christen trotz ihres Sozialverhaltens verfolgt wurden und nicht, wie diese Imbiss-Betreiberin, wegen ihres Sozialverhaltens.

Die Betreiberin behauptet, Lesben und Schwulen drohe die ewige Hölle. Eine Aussage, die ich theologisch für haltlos und seelsorgerisch für eine Vollkatastrophe halte. Auf jeden Fall ist es eine Aussage über das Jenseits, die für keinen der Anwohner und Besucher der Pallasstraße nachprüfbar ist. Nachprüfbar ist hingegen für jeden Passanten die Auswahl der Bibelverse in ihrem Schaufenster. Die Betreiberin präsentiert sich damit als Person, die die Umgebung, in die sie freiwillig gezogen ist, nicht respektiert, und deshalb von dieser Umgebung auch keinen Respekt zu erwarten hat. Statt sich das Wohlwollen des ganzen (Nollendorfkiez-) Volkes zu erarbeiten, arbeitet sie mit bewusster Provokation. Sie zerstört damit von vornherein das Vertrauen, das nötig ist, um überhaupt erst als Gesprächspartner über Fragen des Jenseits ernst genommen zu werden.

Viele Christen beklagen, dass das Leben nach dem Tod in der christlichen Verkündigung eine zu geringe Rolle spielt. Sie verkennen dabei, dass es viel zu viele Christen wie diese Imbiss-Betreiberin gibt, die durch ihr diesseitiges Verhalten das Vertrauen in christliche Verkündigung zerstören, so dass Jenseits-Verkündigung sinnlos wird. Erweckung in christlichem Sinn hat ihren Nährboden stets in einem als positiv wahrgenommenen Beitrag der Christen zur Gesellschaft, im Wohlwollen beim ganzen Volk, wie es die Apostelgeschichte nennt.

Christliche Verheißungen werden in der säkularen Gesellschaft oft bestenfalls als Vertröstungen wahrgenommen. Die häufig guten und nachvollziehbaren Gründe für diese Wahrnehmung liegen meist Fehlverhalten der Kirche als Institution oder einzelner Christen, wie zum Beispiel dieser Imbiss-Betreiberin. Der Erfolg der Predigt hängt von der Vertrauenswürdigkeit des Predigers ab. Wenn der Ruf nicht gehört wird, weil dieses Vertrauen fehlt, lohnt es sich nicht, lauter zu rufen.

Keine Gefangenen

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Der frühere Salzburger Weihbischof Laun warnt laut Queer.de vor dem „Gefängnis der LGBT-Ideologie“. Ich denke, so eine Äußerung sagt mehr über ihn aus als über die sogenannte LGBT-Ideologie.

Ich habe beim Stichwort Gefängnis ein Bild vor Augen, dass vermutlich mehr durch ältere Spielfilme als durch die Realität geprägt ist: Lange Reihen von vergitterten Zellen. So ein klassisches Gefängnisgitter aus Längs- und Querstäben sieht ja eigentlich von beiden Seiten ziemlich ähnlich aus. Wenn man nur das Gitter selbst sieht, ist es gar nicht leicht zu erkennen, auf welcher Seite man sich befindet, und doch ist genau das beim Gefängnis die entscheidende Frage. Eine Frage, die sich leicht beantworten lässt, sobald man sich vom Gitter abwendet: Auf der einen Seite versperren Wände den Weg, auf der anderen Seite wartet die Freiheit.

Auch die Bibel spielt immer wieder mit dem Bild des Gefängnisses und der Gefangenen. In Psalm 68, Vers 19 wird Gott als siegreicher Feldherr dargestellt, der Kriegsgefangene mit sich führt und Tributzahlungen einsammelt. Paulus zitiert diese Stelle in Epheser 4, 8 wie gewohnt recht frei und gibt ihr eine ganz neue Bedeutung: Jesus ist in das Totenreich hinabgestiegen und hat die Gefangenen des Todes befreit. Auch sammelt er bei Paulus keine Gaben ein, sondern verteilt sie. Um es mit modernen Begriffen zu sagen: Aus der Geiselnahme in Psalm 68 wird bei Paulus eine Geiselbefreiung. Die Gefangenen wechseln zunächst nur von einer Gewalt in die andere, nämlich von der Gewalt des Geiselnehmers in die Gewalt des Geiselbefreiers. Aber die Gefangenschaft durch Jesus führt fort vom Gefängnis mit seinen Zellen und Gittern, führt in die Freiheit, denn wir sind, wie derselbe Paulus an die Galater schreibt, zur Freiheit berufen.

Wer am Gitter stehen bleibt, wird diese Freiheit nie erleben. Schlimmer noch: Er wird die Orientierung verlieren und irgendwann nicht mehr begreifen, auf welcher Seite des Gitters er steht. Denn in einem Punkt hat Bischof Laun recht: Ideologie ist ein Gefängnis, denn Ideologie lebt immer von Abgrenzung, sie wendet sich ab von der Freiheit und schaut nur noch auf das Trennende, auf das Gitter.

Was die sogenannte LGBT-Ideologie betrifft: Ich habe beide Seiten des Gitters erlebt und habe auf beiden Seiten des Gitters meine Freiheit gesucht. Ich war auf derselben Seite wie Bischof Laun. Dort bin ich nur gegen Wände gelaufen und habe mir manch blutige Nase geholt. Mittlerweile bin ich auf der anderen Seite gelandet und erlebe Freiheit und Weite. Unzählige Christen und Nichtchristen haben genau die gleichen Erfahrungen gemacht. Es gibt keinen Zweifel, auf welcher Seite die Gefängniszelle und auf welcher Seite die Freiheit ist.

Ideologie will so etwas aber gar nicht herausfinden. Sie „weiß“, dass ihre Seite die richtige ist, nicht weil sie es so erlebt hat, sondern weil sie es so definiert. Dabei schaut sie nur auf das Trennende, auf das Gitter, und hat so keine Chance, die Wahrheit herauszufinden. Laun kann den Blick nicht vom „Gefängnis der LGBT-Ideologie“ abwenden und begreift nicht, dass er sich selbst in der Gefängniszelle befindet und nicht davor. Ob er es noch irgendwann herausfindet? Man darf die Hoffnung nie aufgeben.

Und für den Rest von uns: Das Ausloten der Freiheit, die Christus uns schenkt, ist ein wichtiger, lebenslanger Lernprozess, der manche Überraschung bereit hält. Und wenn wir dabei ständig gegen Wände laufen, ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass wir uns noch auf der falschen Seite der Gitterstäbe befinden, und dass wir Jesus als ein-Mann-Kommmandounternehmen brauchen, der uns in einer spektakulären Geiselbefreiung aus unserem Gefängnis entführt.

Ab und zu ein paar Geigen

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Heute gibt es Musik von Maybebop und der NDR Radiophilharmonie:

Ich finde mich in dem Lied wieder. Ich bin oft zögerlich, brauche lange für Entscheidungen und gehe ungern Risiken ein. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass das Leben an mir vorbeizieht, weil ich die Gelegenheiten, die es mir bietet, nicht wahrnehme.

Im Film ist alles viel einfacher: Es gibt ein Drehbuch, das alle Irrungen und Wendungen auf dem Weg zum Happy End genau vorgibt, das klar erkennen lässt, was die wichtigsten Momenten, die Schlüsselstellen für die Entwicklung des Protagonisten sind. Und falls eventuell ein mäßig begabter Schauspieler mit der Darstellung eines solchen Momentes überfordert sein sollte, gibt es die Filmmusik, die die richtige Stimmung erzeugt und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden hilft.

Das wahre Leben hat keinen Soundtrack. Wie praktisch wäre es, wenn sanfte Geigen unsere romantischen und Blechbläser unsere heroischen Momente begleiten, ja ankündigen würden. Manche Entscheidung, manche Aktion fiele sehr viel leichter, und wir würden viel weniger Gefahr laufen, den richtigen Moment zu verpassen oder an den Wendepunkten unseres Lebens vorbei zu laufen.

Der richtige Moment hieß bei den alten Griechen Kairos. Er ist in der altgriechischen Kultur so wichtig, dass er als Gott verehrt wurde. Auch in der Bibel ist er von großer Bedeutung. Als die Zeit erfüllt war und Jesus begann, öffentlich aufzutreten, ist vom Kairos die Rede, ebenso wenn Paulus die Epheser anweist: „Kauft die Zeit aus.“ Gott handelt nicht irgendwann. Er handelt zum richtigen Zeitpunkt, zum Kairos, und das soll wohl auch für seine Kinder gelten.

Und wie erkennt man ihn nun, den Kairos? Ich habe immer mal wieder versucht, das zu erzwingen; zum Beispiel indem ich mich selbst unter Druck gesetzt habe, immer aufmerksam zu sein und keine Gelegenheit zu verpassen. Sehr ermüdend. Oder ich wollte Gott dazu bringen, sich doch gefälligst deutlich auszudrücken und mir endlich klar zu zeigen, was er von mir erwartet. Aber welchen Erfolg soll es haben, den Schöpfer des Himmels und der Erde unter Druck setzen zu wollen?

Beides jedoch verstopft die Ohren für die Stimme Gottes. Das ist ja gerade das unglaubliche: Die Stimme, durch deren Worte das Universum entstanden ist, erklingt in meinem Geist leise, bescheiden, als eine von vielen. Und nicht zuletzt häufig unerwartet, sowohl in dem, was sie sagt, als auch in dem, wie sie es sagt. Nicht selten übernimmt sie die Rolle der Filmmusik: Mal erhöht sie die Spannung, mal schenkt Ruhe, oft bestätigt sie Eindrücke, die ich habe, und manchmal lässt sie die Stimmung auch komplett kippen.

Bei dem Lied von Maybebop dachte ich zuerst, wie schön das wäre, so ab und zu ein paar Geigen zu hören, die einen auf den richtigen Moment, den Kairos hinweisen. Erst beim zweiten Hören ist mir aufgefallen, dass ich solche Geigen-Momente schon erlebt habe, nicht übermäßig oft, aber doch einige Male in den letzten Jahren. Dass es Gottes Stimme war, die zum entscheidenden Zeitpunkt die richtige Stimmung, die richtige Erwartungshaltung in mir hervorgerufen hat. Und so schleicht sich Gott an meinen Ängsten vorbei, untergräbt meine Bedenken und hebelt mein Zögern aus.

Auf diese Weise habe ich schon den einen oder anderen unerwarteten Weg eingeschlagen, unerwartet vor allem, weil ich mir vorher nicht hätte vorstellen können, dass Gott so einen Weg mit mir gehen würde. Es ist wie in einem guten Film: Die Handlung ist nicht vorhersehbar, man muss auf Überraschungen gefasst sein. Und doch ergibt alles letztlich einen Sinn. Ich glaube zwar nicht, dass es zu meinem Leben ein festes Drehbuch gibt, aber ich bin überzeugt, dass der Soundtrack zu meinem Leben im Himmel geschrieben wird, und ab und zu, ganz leise, höre ich ihn schon spielen.

Alan Turing

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Wer über Alan Turing schreibt, müsste eigentlich über seine Verdienste um die Theoretische Informatik schreiben. Er hat dieses Fach mitbegründet und richtungsweisende Beiträge geliefert. Wenn heute über künstliche Intelligenz diskutiert wird, geschieht das vielfach auf Grundlage seiner Arbeiten. Ich arbeite zwar als Software-Entwickler, bin aber kein Informatiker. Mir fehlt deshalb leider die Fachkompetenz, um die Bedeutung von Turings wissenschaftlichen Werk angemessen zu würdigen.

Der Zweite Weltkrieg hat Turing von der Theorie zur Praxis geführt. Er lieferte entscheidende Beiträge zur Entschlüsselung deutscher Funk-Kommunikation und den Alliierten damit äußerst wichtige Informationen. Er dürfte damit den Zweiten Weltkrieg verkürzt und unzählige Menschenleben gerettet haben.

Persönliche Ehrungen für diese Leistung blieben aus. Sein Beitrag zur Entschlüsselung der deutschen Enigma blieb bis in die siebziger Jahre geheim. Viel früher, nämlich im Jahr 1952 wurde Turing wegen „grober Unzucht und sexueller Perversion“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er eine sexuelle Beziehung zu einem Mann hatte. Um dem Gefängnis zu entgehen, unterzog er sich ersatzweise einer frühen Form der Konversionstherapie, die aus der Gabe angeblich triebhemmender Hormone und aus Psychoanalyse bestand. Die Hormone führten zu Depressionen, und zwei Jahre später starb Alan Turing unter nicht zu 100 Prozent geklärten Umständen, aber sehr wahrscheinlich durch Suizid aufgrund der Depressionserkrankung. Er wurde nur 41 Jahre alt.

2013 wurde Alan Turing nach mehrjähriger Diskussion offiziell rehabilitiert. Der Fall Turing wurde im Vereinigten Königreich zum Anlass und zur juristischen Vorlage für die Rehabilitierung unzähliger homosexueller Männer, die, wie er, unter staatlicher Verfolgung durch ungerechte Gesetze gelitten haben. Damit hat Turing sechs Jahrzehnte nach seinem Tod noch einen wichtigen Beitrag zu den Rechten homosexueller Menschen geleistet.

Alan Turing war seiner Zeit weit voraus und zerbrach an der Rückständigkeit und Grausamkeit seiner Zeit. Er war sich dessen bewusst, dass er die Anfänge einer gewaltigen, technologischen Revolution erlebte. Die moderne Computer-Technologie hätte ihn vermutlich nicht allzu sehr überrascht. Die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Ehen vielleicht umso mehr. Die Menschheit ist und bleibt lernfähig, nicht nur in technologischer, sondern auch in ethischer und menschlicher Hinsicht.

Ein Krieg zwischen den europäischen Mächten ist heute schlechterdings undenkbar, und wir sollten uns alle dafür einsetzen, dass das auch so bleibt. Das gleiche gilt mittlerweile in Turings und meiner Heimat für die strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlich Liebender. Leider ist die grausame Behandlung homosexueller Menschen, wie sie Turing erfahren hat, bei uns noch nicht ganz ausgerottet. Wir arbeiten daran.

Turings Erbe ist in der wissenschaftlichen Informatik von immenser Bedeutung, aber beschränkt sich nicht auf den Fachbereich, sondern geht weit darüber hinaus. Umso mehr freut mich eine aktuelle Würdigung. Sie kommt vielleicht Jahrzehnte zu spät und ist doch zugleich Zeichen dafür, was sich in diesen Jahrzehnten verändert hat. Heute gab der Gouverneur der Bank of England bekannt, dass Alan Turing und sein Lebenswerk auf der neuen englischen 50-Pfund-Note geehrt werden.

In diesem Artikel wird das Thema Suizid erwähnt. Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym. Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 http://www.telefonseelsorge.de

Ergebnisoffen

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Meine Begegnungen mit den Vertretern der sogenannten Konversionstherapie liegen einige Jahre zurück. Mehrere davon waren tatsächlich erfahrene und gute Therapeuten bzw. Seelsorger, von denen ich manches gelernt habe, was mir bis heute hilft. Kein Wunder also, dass ich auch ihren Aussagen über Homosexualität lange, viel zu lange geglaubt habe.

Einer dieser Seelsorger hat Homosexualität mit Kannibalismus verglichen: So wie manche Kannibalen ihre Opfer verzehren, damit deren Stärken auf sie übergehen, würden sich homosexuelle Menschen Partner des gleichen Geschlechts suchen, um sich deren Stärken einzuverleiben und damit ihre eigenen Defizite auszugleichen. Ich fand den Vergleich damals tatsächlich treffend und hilfreich. Heute sehe ich das natürlich völlig anders.

Es ist ja eine gute Sache, wenn sich Partner in ihren jeweiligen Stärken ergänzen und damit die Schwächen des Anderen ausgleichen. Aber durch den Vergleich mit Kannibalismus bekommt diese an sich gute Sache einen derart negativen Spin, dass man sie nur noch angewidert ablehnen kann. Ich glaube, das ist das Grundprinzip so ziemlich jeder Konversionstherapie: Man gibt der Idee einer gleichgeschlechtlichen Beziehung einen extrem negativen Spin, sodass der Verzicht auf so eine Beziehung als einzige vernünftige oder anständige Möglichkeit übrig bleibt.

Das Verbot derartiger Therapieversuche wird mittlerweile auf allen Ebenen diskutiert: Das Europäische Parlament hat sich dafür ausgesprochen, und sowohl der derzeitige Gesundheitsminister als auch mehrere Landesregierungen haben Gesetzentwürfe dafür angekündigt.

Die Deutsche Evangelische Allianz wendet sich offiziell gegen ein solches Verbot. In einer Mitteilung vom 12. Juni erklärt sie einerseits, solche Therapien würden bei evangelikalen Christen und christlichen Werken nicht statt finden. Andererseits wird gefordert, dass eine ergebnisoffene Beratung möglich sein müsste, und dass das geplante Gesetz diese Verhindern würde. Der Trick ist offensichtlich: Die Veränderung der sexuellen Orientierung wird nicht mehr als Ziel, sondern nur als mögliches Ergebnis einer Therapie dargestellt. Gleichzeitig arbeitet man in derselben Mitteilung am erwähnten negativen Spin, indem man dem angeblich so guten Wirken der einschlägigen christlichen Organisationen die Gefahren der „sexsüchtigen Schwulenszene“ gegenüberstellt.

Ergebnisoffen kann eine Therapie nur dann sein, wenn es keine klaren, wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, welche Therapieschritte wirksam sind und welche nicht. Wer zum Arzt oder Therapeuten geht, erwartet in den meisten Fällen keine ergebnisoffene Beratung, sondern die konsequente Durchführung der angezeigten und allgemein anerkannten Diagnose- und Therapieschritte. Wo die Wissenschaft längst geklärt hat, dass ein Therapieziel hilfreich und ein anderes schädlich ist, ist eine ergebnisoffene Beratung ein gravierender fachlicher Fehler. Die Deutsche Evangelische Allianz fordert nichts anderes als die Erlaubnis zur vorsätzlichen Stümperei in Therapie und Seelsorge.

Wie konnte es dazu kommen, dass eine der bedeutendsten christlichen Organisationen Deutschlands so etwas fordert? Ich denke, die Idee einer christlich-seelsorgerlichen Konversionstherapie war ursprünglich eine sehr menschenfreundliche. Im Jahr 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass der Paragraph 175 des Strafgesetzbuchs nicht im Widerspruch zum Grundgesetz steht. Ein Urteil, für das man sich heute schämen muss, wie der derzeitige Präsident eben jenes Gerichts zutreffend feststellt, aber ein Urteil, das durchaus dem gesellschaftlichen Konsens seiner Zeit entsprach: Homosexualität galt als verabscheuungswürdig und verwerflich.

Wohlmeinende Christen sahen das Dilemma der Betroffenen und sagten sich: Wenn Gott jeden Menschen liebt, aber Homosexualität ablehnt, dann muss es für homosexuelle Menschen einen Ausweg aus diesem Dilemma geben, einen Weg, an dessen Ende eine erfüllte, heterosexuelle Beziehung steht. Ich bin überzeugt, dass dieser Weg der Konversionstherapie in bester Absicht beschritten wurde. Mittlerweile ist aber jenseits jeden vernünftigen Zweifels klar, dass es sich um einen Irrweg handelte.

Und trotzdem halten viele Christen an den beiden zugrunde liegenden Thesen fest, an der Verwerflichkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen und an der Liebe Gottes zu jedem Menschen. Die Konversionstherapie ist das verbleibende Bindeglied zwischen beiden Thesen, die einzige Möglichkeit, dass beide Thesen gleichzeitig wahr sein können.  Dass manche Ansichten in Bezug auf Homosexualität, die von 20 Jahren noch christlicher Konsens waren, heute nicht mehr aufrecht erhalten werden können, ist auch den Vertretern der Deutschen Evangelischen Allianz klar. Das sind ja keine schlechten oder böswilligen Menschen.

Die angeblich ergebnisoffene Beratung mit gleichzeitigem negativen Spin auf gleichgeschlechtliche Beziehungen ist der ziemlich offensichtliche Versuch, die Idee von Konversionstherapien zu retten, ohne sie so nennen zu müssen, der Versuch, den Irrweg zu leugnen, um ihn nicht wirklich verlassen zu müssen. Denn der Preis dafür, den Irrweg einzugestehen und zu verlassen, ist sehr hoch. Es geht hier nicht nur um persönliche Eitelkeiten. Es geht um berufliche Karrieren und um Lebenswerke. Es geht um Institutionen. Wenn führende Vertreter der Deutschen Evangelischen Allianz die Konversionstherapie als Irrweg ablehnen und in Konsequenz Homosexualität als von Gott gewollt anerkennen, kann das das Ende der Deutschen Evangelischen Allianz in ihrer derzeitigen Form bedeuten. Ich denke, das haben Parzany und seine Anhänger sehr deutlich gemacht.

Ich weiß ja selbst, wie schwierig die Abkehr vom Irrweg sein kann. Für mich war der Preis längst nicht so hoch, trotzdem habe ich viel zu lange diesen Irrweg nicht nur selbst beschritten, sondern auch gegenüber anderen vertreten und verteidigt. Ich habe die Auseinandersetzung mit meinen berechtigten Zweifeln gescheut und den Kampf um die Wahrheit verweigert. Dadurch habe ich auch Schuld auf mich geladen.

Ich fürchte, in der Praxis wird ein Verbot zunächst wenig bewirken. Die einschlägigen christlichen Organisationen haben sich längst für ihren Weg entschieden, sie werden ihre Absichten verschleiern und leugnen, sie werden das Verbot umgehen und brechen, und ich denke, sie werden damit weitgehend durchkommen, denn bei Therapie oder Seelsorge, beim geschützten Gespräch zwischen Berater und Ratsuchenden darf der Staat nicht lauschen. Trotzdem sehe ich Gutes im Verbot, weil es klare Grenzen schafft zwischen Weg und Irrweg, weil es die, die Unrecht tun, auch offiziell ins Unrecht setzt, und weil es auf diesem Weg vielleicht das eine oder andere christliche Gewissen beunruhigt oder aufrüttelt. Für mich hätte ein solches Verbot manche Lüge entlarvt, es hätte mich früher zum Nachdenken und auch früher zur Umkehr gebracht. Es hätte mir vermutlich viel Leid erspart.

Dass die einschlägigen Organisationen versuchen, ihren Weg unter anderem Namen weiterzugehen, war leider zu erwarten. Dass sich die Deutsche Evangelische Allianz derart leicht vor deren Karren spannen lässt, erschreckt mich trotzdem. Die christliche Antwort auf einen erkannten Irrweg ist nicht die minimal mögliche Richtungskorrektur, sondern Buße und Umkehr. Die Evangelische Allianz und ihre Vertreter haben als wichtigste Organisation freikirchlicher Christen in Deutschland Vorbildcharakter. In der Frage der Konversionstherapie bieten sie vor allem ein Vorbild in Starrsinn und Wagenburgmentalität, und viele Christen eifern ihnen darin nach. Solange sie nicht dazu bereit und willens sind, ein Vorbild in Buße und Umkehr zu sein, werden weiterhin LGBTQ+-Christen den Glauben an einen liebenden Gott und in manchen Fällen auch den Willen zu leben verlieren.

Juda und Tamar, Teil 2

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Die folgenden Gedanken basieren auf meinem letzten Eintrag. Bitte den zuerst lesen. Danke.

Die Geschichte von Juda und Tamar in 1. Mose 38 lebt aus ethischen und philosophischen Vorstellungen, die wir heute für archaisch und menschenverachtend halten. Doch wenn man sich die Mühe macht, die Hülle dieser Vorstellungen abzustreifen, kommen ein paar interessante biblische Werte zum Vorschein, die über die Zeiten hinweg gültig sind.

Da wäre zuerst einmal Onan; er ist der einzige in der Geschichte, der für eine konkret benannte Tat von Gott bestraft wird: Er verweigert Tamar den Nachwuchs, weil der erste Sohn nicht als sein eigener, sondern als Sohn seines verstorbenen Bruders Ger gegolten hätte. Das ist ein recht eigensüchtiges Motiv, insbesondere wenn man bedenkt, was er Tamar damit antat. Ich erinnere daran, wie wichtig es für eine Frau damals war, Kinder zu bekommen, und wie sehr sowohl ihr Selbstwert als auch ihre gesellschaftliche Anerkennung davon abhingen. Onan erniedrigt seine Frau und gibt sie der Erniedrigung durch andere preis.

Auf Ehebruch stand damals in den meisten Fällen die Todesstrafe. Ist es zu weit hergeholt, die Tat Onans als Ehebruch zu definieren und seinen Tod als die von Gott vollstreckte Strafe dazu? Mann könnte sagen: Ehebruch vollzieht, wer seinen Partner oder seine Partnerin bewusst und aus selbstsüchtigen Motiven erniedrigt oder der Erniedrigung durch andere preisgibt. Es ist offensichtlich, dass das klassische Fremdgehen in dieser Definition enthalten ist. Onans Tat ist ganz gewiss kein klassisches Fremdgehen, aber in seiner Auswirkung auf Tamar nicht weniger schlimm und nicht weniger demütigend.

Schon in 1. Mose 2 heißt es, dass ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen wird, eine für die damaligen, patriarchalischen Familienverhältnisse sehr ungewöhnliche Formulierung, die zeigt, wie wichtig der Bibel von Anfang an die Zuwendung der Ehepartner zueinander ist. Und Paulus macht im Epheserbrief deutlich, dass diese Zuwendung zum Ziel haben muss, dass sich der Partner bzw. die Partnerin geehrt und wertgeschätzt fühlt. (Über die speziellen Auslegungsprobleme dieser Bibelstelle habe ich vor längerer Zeit etwas geschrieben.)

Onans Bestrafung stützt die Auffassung, dass Ehebruch im Kern eben nicht in sexuellen Handlungen mit Dritten besteht, sondern in der Demütigung und Erniedrigung des eigenen Partners bzw. der eigenen Partnerin. Das würde heißen, dass auch nicht sexuelle Handlungen als Ehebruch gelten könnten. Das würde auch heißen, dass sexuelle Handlungen, die im Einvernehmen der Ehepartner geschehen, und mit denen sich beide wohl fühlen, kein Ehebruch sein könnten.

Das zweite Thema des Textes ist für mich Sex als Mittel zum Zweck. Tamar hat sich ihr Recht erkämpft, indem sie mit Juda, ihrem Schwiegervater, geschlafen hat. Sie hätte das nicht tun müssen, sie hätte sich ebenso gut zurücknehmen und auf ihr Recht verzichten könnte. Juda tadelt sich selbst, dass Tamar zu solch einem Mittel greifen musste, aber er lobt Tamar, dass sie zu diesem Mittel gegriffen hat.

Kern des Problems ist natürlich ein Defizit bei der Rechtsdurchsetzung: Tamar hätte andere Mittel haben müssen, zu ihrem Recht zu kommen, als mit einem Mann zu schlafen, mit dem sie nicht verheiratet war, und an dem sie kein erotisches oder romantisches Interesse hatte. Wie die #MeToo-Debatte zeigt, ist dieses Problem nicht auf die Antike beschränkt: Noch immer erwarten Menschen mit Macht und Einfluss (meist Männer) sexuelle Zuwendung von anderen Menschen (meist Frauen) als Gegenleistung für lediglich gerechte Behandlung oder angemessene Förderung – von den viel schlimmeren Fällen der Ausnutzung von Abhängigkeiten und Notlagen mal abgesehen.

Juda verhielt sich zu keinem Zeitpunkt sexuell übergriffig. Dass Tamar sich ihr Recht dadurch verschaffen musste, dass sie mit Juda schlief, liegt an den Verhältnissen der Zeit und daran, dass es eben um ihr Recht auf Heirat und ihre Chance auf Kinder ging. Es liegt nicht daran, dass Juda so ein verhalten erwartet oder gar eingefordert hätte. Deshalb darf sein Urteil über sich selbst auch milde ausfallen. Diejenigen Täter, die bewusst und explizit sexuelle Handlungen einfordern, müssen mit aller Schärfe verurteilt werden. Diejenigen Opfer, die sich wehren und den Missbrauch öffentlich machen, müssen unterstützt und für ihren Mut geehrt werden. Das ist alles selbstverständlich.

Es gibt aber eine Konsequenz aus der Bibelstelle, die ich sehr wichtig finde: Diejenigen Opfer, die, wie Tamar, das perfide Spiel mitspielen, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, zu ihrem Recht zu kommen, weil es in ihrer Umgebung keinen anderen Weg für sie gibt zu einer verdienten Karriere oder einer gerechten Anerkennung ihrer Leistungen, diese Menschen haben sich nichts vorzuwerfen. Die Bibel hat kein Urteil für sie, ganz im Gegenteil: In solchen Situationen heiligt der Zweck die Mittel. Wenn es um sexuelle Belästigung oder Übergriffigkeit geht, handelt immer nur eine Seite verwerflich: Es ist immer der Täter, nie das Opfer.

Unter das Thema Sex als Mittel zum Zweck fällt natürlich auch die Prostitution. Ich wäre vorsichtig, aus dem Text Aussagen dazu ableiten zu wollen. Offensichtlich hat die Bibel weder ein Problem damit, dass Juda zu einer Prostituierten geht, noch dass sich Tamar unter den hier doch recht speziellen Umständen als solche anbietet. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass es aufgrund der gesellschaftlichen Wertvorstellungen für Juda einfach keine andere Möglichkeit gab: Prostituierte waren damals die einzigen Frauen, denen es erlaubt war, Sex mit Männern zu haben, mit denen sie nicht verheiratet waren. Wie gut, dass wir von solchen Gesellschaftsstrukturen heute weit entfernt sind – zu weit entfernt für mich, um aus diesem Text Aussagen zu aktuellen Formen von Sexarbeit zu entnehmen.

Aber das bringt uns zum dritten Thema: Sex außerhalb der Ehe. Beide, Juda und Tamar, sind verwitwet, es gibt keinen Partner, den sie hintergehen oder demütigen könnten. Für die damalige Gesellschaft war die Situation klar: Juda darf, Tamar nicht. Bei Tamar spielen Gründe eine Rolle, die heutzutage nicht mehr relevant sind, und die ich ja schon im Teil 1 beschrieben habe. Wenn es hier irgend eine sexuelle Reinheit zu verteidigen gäbe, die jenseits antiker Gesellschaftsstrukturen heute noch Relevanz hat, müsste das auch für Juda gelten, nicht nur für Tamar. Und für Juda ist Sex außerhalb der Ehe normal und natürlich; so normal, dass Tamar damit rechnen konnte, dass er jede der seltenen Gelegenheiten, die sich ihm bieten, auch nutzt. Die Bibel sieht darin bei Juda nichts verwerfliches, wieso sollte es das aus heutiger Sicht für Tamar sein? Wieso sollte es das für irgend jemand sein?

Tamar hat außerehelichen Geschlechtsverkehr mit Juda, das ist nach den Wertvorstellungen der damaligen Zeit verwerflich, nach dem Urteil der Bibel nicht. Juda hat Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten, das ist weder für die Wertvorstellungen der damaligen Zeit noch für die Bibel verwerflich. Verwerflich ist, dass Juda Tamar ihr Recht und die Chance auf legitimen Nachwuchs vorenthält. Verwerflich ist, dass Onan mit Tamar keine Kinder zeugen will, aber nicht weil Verhütung verwerflich ist, sondern weil er damit Tamar ihr Recht und die Chance auf legitimen Nachwuchs vorenthält. Und auch das ist nur verwerflich, weil Kinder zu bekommen damals für Selbstwert und gesellschaftliche Anerkennung einer Frau so immens wichtig war.

Wie wichtig das für Tamar war, ist für uns heute kaum nachzuvollziehen, aber mit diesen Unterschieden müssen wir generell rechnen: Was dem Einen sehr wichtig ist, kann dem Anderen völlig unwichtig sein. Allgemeine Regeln können diesen Unterschieden nicht gerecht werden, und wer solche Regeln aus der Bibel ableiten will, wird gerade solchen Geschichten wie der von Juda und Tamar nicht gerecht. Die Bibel stellt immer wieder die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Wertungen. Eine biblische Sexualethik muss dasselbe tun. Die Geschichte von Juda und Tamar liefert dazu wichtige Anhaltspunkte, sie weist in eine Richtung, in die es sich lohnt, weiterzugehen.

Juda und Tamar, Teil 1

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Auch wenn die Bibel Homosexualität im heutigen Sinne gar nicht behandelt, ist sie doch voll von Aussagen über Sexualität und den Umgang damit. Aber diese Aussagen werden vor einem Hintergrund ethischer Werte und philosophischer Vorstellungen gemacht, den wir heute (völlig zurecht) nicht mehr teilen, der aber für eine Auslegung, die dem Text gerecht wird, berücksichtigt werden muss.

Das ist gerade im Neuen Testament besonders schwierig, weil dieser Hintergrund selten explizit genannt wird. In den Evangelien werden Begegnungen mit Jesus erzählt, meist als sehr kleiner Ausschnitt aus einer größeren Lebensgeschichte, von der wir höchstens bruchstückhaft erfahren. Die Briefe enthalten konkrete Anweisungen und Richtlinien für konkrete Situationen – Situationen, die nicht explizit genannt werden müssen, weil sie den Empfängern ja wohlbekannt sind. Das richtige Verständnis neutestamentlicher Sexualethik setzt also Wissen voraus, das aus dem Text selbst nicht gewonnen werden kann.

Das Alte Testament erzählt uns dagegen häufig eine vollständige Geschichte. Der ethisch-philosophische Hintergrund unterscheidet sich zwar noch stärker als im Neuen Testament von unseren Auffassungen heute, ist aber oft deutlicher im Bibeltext selbst zu erkennen und herauszulösen. Ich möchte das mal an der Geschichte von Juda und Tamar versuchen, die in 1. Mose 38 zu finden ist.

Kurz zum Inhalt: Tamar ist die Ehefrau von Judas ältestem Sohn Ger, der jedoch (wegen nicht näher genannten Verstößen gegen den Willen Gottes) vorzeitig und kinderlos stirbt. Nach damaligem Recht bekommt Tamar Gers nächst jüngeren Bruder Onan zum Mann. Dieser verhütet aber durch unterbrochenen Beischlaf, was Gott überhaupt nicht gefällt, weswegen auch er kinderlos stirbt. Als nächster wäre Judas jüngster Sohn Sela dran, aber der ist noch zu jung für die Ehe. Tamar muss erst mal warten.

Nach ein paar Jahren Wartezeit wird klar, das Juda (entgegen geltenden Rechts) nie die Absicht hatte, Sela mit Tamar zu verheiraten. Tamar erfährt, dass Juda, mittlerweile selbst Witwer, zwecks Schafschur unterwegs ist. Sie verhüllt sich, verkleidet sich als Prostituierte und setzt sich an einen Ort, an dem auch Juda erwartet wird. Er schläft auch tatsächlich mit ihr, muss ihr aber unter anderem sein Siegel als Pfand da lassen, da er die versprochene Bezahlung (einen Ziegenbock) nicht zur Hand hat.

Tamar verhindert die Übergabe dieser Bezahlung und behält das Siegel. Als offensichtlich wird, dass sie schwanger ist, soll sie wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs hingerichtet werden, aber mit dem Siegel kann sie beweisen, das Juda der Vater ist. Juda erkennt an, dass Tamar richtig gehandelt hat, weil es Unrecht war, ihr seinen Sohn Sela zu verweigern.

Ich denke, als erstes stolpert der moderne Leser über das Institut der Schwagerehe. Dass eine kinderlose Witwe den nächst jüngeren Bruder ihres verstorbenen Mannes heiraten soll, ist aus heutiger Sicht völlig unverständlich, damals aber geltendes Recht, für das es drei aus damaliger Sicht durchaus nachvollziehbare Gründe gibt:

  • Als erstes geht es um das Erbrecht: Vererbt wird über den ältesten Sohn, und wenn dieser keine Nachkommen hat, ist die Situation unklar und kann zu Streit und Entzweiung in der Sippe führen. Das Ganze ist im Volk Israel von besonderer Wichtigkeit, da hier auch die Landzuteilung an die Stämme durcheinander geraten könnte, die ja geradezu Verfassungsrang hat. In der Schwagerehe ist diese Situation geklärt, weil der erste Sohn aus dieser Ehe als Sohn in erstgeborener Linie gilt.
  • Zweitens spielt der Schutz der Witwe eine große Rolle, denn nach dem Tod ihres Mannes ist sie weder reguläres Mitglied ihrer Herkunftsfamilie, noch der Familie ihres verstorbenen Mannes. In einer Kultur, in der nicht nur das soziale, sondern auch das materielle Überleben einer Frau von ihrer Zugehörigkeit zu einem Familienverband abhängig war, sorgte die Schwagerehe dafür, dass die Witwe weiterhin Teil der Familie ihres verstorbenen Mannes bleiben konnte.
  • Schließlich bestimmte sich Wert und Selbstwert einer Frau in der damaligen Kultur sehr stark anhand ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären. Für eine Frau bedeutete eine kinderlose Ehe eine starke Abwertung. Die Schwagerehe gab ihr die Möglichkeit, diesen Makel auszugleichen.

Noch viel schlimmer als die Schwagerehe empfinde ich die ungleiche Behandlung von Juda und Tamar. Beide waren verwitwet, als sie außerehelichen Sex hatten. Für Juda schien das völlig normal zu sein. Tamar hätte ihren gewagten Plan nicht gefasst, wenn sie nicht davon ausgegangen wäre, dass Juda die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen würde. Das war offensichtlich bekannt und gesellschaftlich anerkannt. Juda hätte auch nicht einen Freund mit der Bezahlung beauftragt, wenn er die Tatsache an sich hätte verheimlichen wollen. Er sorgte sich zwar um seinen Ruf, aber nicht weil er Sex mit einer Prostituierten hatte, sondern weil er sie nicht gerecht bezahlen konnte.

Ganz anders bei Tamar: Obwohl in der gleichen Lebenssituation wie Juda stand bei ihr auf außerehelichen Geschlechtsverkehr die Todesstrafe, und zwar weil sie eine Frau war. Diese Ungleichbehandlung ist für uns heute kaum erträglich, hat aber ihre Ursache in der antiken Sicht von Mann und Frau. In einem verbreiteten Vergleich wurde der Mann als Gärtner und die Frau als Garten angesehen. Der Vergleich war durchaus als Wertschätzung der Frau gedacht, weil sie als Trägerin und Bewahrerin ihres Gartens einen besonderen Wert besaß, den Männer nicht hatten. In der Praxis führte dieser Gedanke aber zu der erwähnten Ungleichbehandlung.

Wenn der Mann in einem fremden Garten gärtnert, fügt er nämlich dem eigenen Garten keinen Schaden zu. Und wenn der andere Garten noch einer Prostituierten gehört, ist nach damaliger Vorstellung auch da kein schützenswertes Gut geschädigt worden. Wenn eine Frau aber einen anderen Gärtner in ihren Garten lässt, wird dieser dadurch verunreinigt und entwertet. Für die Zerstörung dieses ihr anvertrauten, hohen Gutes war eine entsprechend harte Strafe vorgesehen. Besonders deutlich wird dies in den unsäglichen Vergewaltigungsgesetzen in 5. Mose 22: Grundsätzlich gibt es dort nur drei Kategorien von Frauen: verheiratete Frauen, verlobte Jungfrauen und nicht verlobte Jungfrauen. Eine Frau, die weder verheiratet noch Jungfrau war, galt offensichtlich nicht als schützenswert, ihr Garten war nach damaliger Ansicht ja sowieso schon quasi verwildert. Bei nicht verlobten Jungfrauen (also wenn kein anderer Mann „geschädigt“ wird) kann eine Vergewaltigung dadurch gesühnt werden, dass der Täter das Opfer heiratet. Das ist nur begreiflich, wenn man der Frau selbst keinen eigenen Wert zumisst, und sie nur noch als Trägerin und Bewahrerin ihres „Gartens“ begreift.

So menschenverachtend das für uns heute auch klingen mag: Dieses Gedankengut ist offensichtlich für die damalige Zeit selbstverständlich gewesen und bildete die Grundlage ethischer Bewertung in der Bibel. Und dieses Gedankengut ist ebenso offensichtlich erst einmal herauszulösen und abzuschälen, wenn in der Bibel von Sexualität die Rede ist, und zwar nicht nur an dieser Stelle, sondern definitiv überall im Alten Testament und mit Einschränkungen auch im Neuen Testament. Ohne diese Betrachtung ist jede Exegese zu diesem Thema wertlos.

Was bleibt dann von so einem Text übrig, was für uns heute anwendbar wäre? Darüber schreibe ich beim nächsten Mal.

 

Bibel-Positivismus

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Eine der philosophischen Grundlagen des modernen Rechtsstaats ist der Rechtspositivismus. Er besagt, kurz gesagt, dass Recht ist, was im Gesetz steht, und nur was im Gesetz steht, und zielt damit in erster Linie auf Rechtssicherheit: Jeder kann (im Prinzip) selbst nachlesen, was erlaubt ist, und was ihn erwartet, wenn er sich nicht daran hält. Der Rechtspositivismus schützt vor Willkür und fördert, dass alle Menschen dem Recht nach gleich behandelt werden. Er hat aber auch Grenzen. Das hat man am Ende des zweiten Weltkriegs festgestellt, denn die unfassbaren Verbrechen der Nazis waren häufig durch die Gesetze gedeckt.

Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch formulierte deshalb im Jahr 1946, dass auch entgegen geltender Gesetze entschieden werden müsse, wenn ihre Anwendung unerträglich ungerecht wäre oder wenn sie selbst die Grundzüge des Rechts verleugnen würden. Diese Radbruch’sche Formel klingt ziemlich unbestimmt, sie stellt, auf Fälle schlimmsten Unrechts begrenzt, zwar die alte Unsicherheit und die Gefahr der Willkür wieder her, ist aber eine offensichtlich notwendige Einschränkung des Rechtspositivismus und damit bis heute Bestandteil der Rechtssprechung der obersten Gerichte.

Warum ich das so ausführlich schildere? Weil viele Christen die Bibel genauso behandeln wie der Rechtspositivismus das Gesetz: Christliche Lehre ist, was in der Bibel steht, und nur, was in der Bibel steht. So wie der Jurist die Antworten zu allen Rechtsfragen im Gesetz suchen muss, suchen diese Christen die Antworten zu allen Glaubens- und Lebensfragen in der Bibel. Analog zum Rechtspositivismus kann man diese Haltung als Bibel-Positivismus bezeichnen, und Google sagt mir, dass ich nicht der erste bin, der diesen Begriff in diesem Sinne gebraucht.

Das Problem am Bibel-Positivismus: Er funktioniert nicht. Die Bibel ist kein Gesetzestext. Das merkt man, wenn man sich moderne Gesetzestexte anschaut: Sie sind bewusst mit der notwendigen Eindeutigkeit und der dazu leider auch oft notwendigen Fachsprachlichkeit formuliert. Gesetzestexte sind selten schön zu lesen, weil sie nicht schön zu lesen sein sollen, sondern weil sie im Sinne des Rechtspositivismus einen genau bestimmten Zweck erfüllen wollen und dazu in erster Linie eindeutig und bestimmt sein müssen.

Bibeltexte genügen diesen Ansprüchen grundsätzlich nicht. Die Bibel besteht in großen Teilen aus Erzählungen und aus Geschichtsschreibung, zwei Literaturgattungen, die wir heute streng unterscheiden, die aber in der Antike wesentlich näher beieinander lagen, und die beide für eine positivistische Auslegung ungeeignet sind. Andere Texte liefern konkrete Handlungsanweisungen, beziehen sich aber meist auf ebenso konkrete Situationen oder spezifische Probleme, so dass ihnen die nötige Allgemeingültigkeit fehlt, die für eine positivistische Auslegung erforderlich ist. Und für die Stellen im Alten Testament, die tatsächlich Gesetzesrang für sich beanspruchen, macht das Neue Testament sehr deutlich, dass sie mit diesem Anspruch für uns heute nicht mehr gültig sind.

Der Bibel-Positivismus legt die Bibel in einer Weise aus, für die sie weder gedacht noch geeignet ist. Er führt zuweilen durchaus zu richtigen Ergebnissen, aber ebenso oft in die Irre und nicht selten zu schlimmen Konsequenzen. Und die werden oft noch viel schlimmer, weil die Bibel-Positivisten kein theologisches Äquivalent zur Radbruch’schen Formel gelten lassen. Statt im unerträglichen Unrecht die Grenzen ihrer Bibelauslegung zu erkennen, wird das Unrecht zum Recht erklärt, weil es sich ja angeblich aus der Bibel ergibt. Beispiele, wie mit der Bibel in der Hand schlimmstes Unrecht begangen wurde, gibt es zu Genüge. Gerade geistlicher Missbrauch geschieht nicht selten mit biblischer Begründung.

Viele Bibel-positivistisch eingestellte Christen erinnern mich auch in ihrem Verhalten nicht an moderne, sorgfältig abwägende Juristen, sondern eher an klassische Westernhelden; der Typus, der schneller zieht als sein Schatten, nur halt nicht den Revolver sondern die Bibel, und der Bibelstellen statt Bleikugeln locker aus der Hüfte feuert. Übrigens trägt der klassische Westernheld auch immer einen weißen Hut, damit man ihn auch noch in der letzten Kino-Reihe leicht vom Bösewicht mit dem schwarzen Hut unterscheiden kann. Womit wir beim Kernproblem des Bibel-Positivismus angelangt sind: Es geht nicht um Recht und Unrecht, sondern um Gut und Böse. Und mit der Bibel In der Hand darf sich der Bibel-Positivist auf der Seite des Guten wähnen und es gegen das Böse verteidigen.

Wir leben aber nicht im Wilden Westen, Gott sei Dank. Denn der klassische Western ist ein guter Ort für Geschichten, aber war ein fürchterlicher Ort zum Leben. Dass Meinungsverschiedenheiten nicht mehr von Revolverhelden, sondern von Juristen und Gerichten geklärt werden, ist außerhalb von Literatur und Film ein gewaltiger Fortschritt. Der Bibel-Positivist wünscht sich in eine Zeit, in der Gut und Böse klar getrennt und einfach unterscheidbar sind, und übersieht, dass es eine solche Zeit außerhalb von Karl-May-Büchern nie gegeben hat.

Unsere Gesellschaft verändert sich rapide. Erklärung und Anerkennung der Menschenrechte, Ächtung des Krieges als Mittel der Politik und auch die Abschaffung der Todesstrafe in vielen Ländern sind vergleichsweise junge Entwicklungen, und selbst die Abschaffung und Ächtung der Sklaverei liegt zeitlich viel näher zu uns als selbst zu den jüngsten biblischen Texten. Das macht die Auslegung und Anwendung der Bibel für uns bedeutend schwieriger als für frühere Generationen. Andererseits ist heute ein Bildungsniveau selbstverständlich geworden, das früher nur gesellschaftlichen Eliten zugänglich war. Wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.

Leider hat der Bibel-Positivismus es geschafft, sich das Etikett bibeltreu anzuheften; eine Zuschreibung, die zwar gelegentlich abwertend verwendet, aber meist nicht in Zweifel gezogen wird. Ich halte das für falsch. Treue zur Bibel zeigt sich in der intensiven, auch kritischen Auseinandersetzung mit der Bibel, mit ihren zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Randbedingungen, mit Reichweite und Selbstverständnis biblischer Texte, mit Textzusammenhang und heilsgeschichtlichen Linien. Wer Christ ist, muss – im Rahmen seiner Möglichkeiten – immer auch ein kleiner Theologe sein.

Dem gegenüber steht der positivistische Gebrauch der Bibel, der die Bibel zitiert statt auslegt, der Antworten findet auf Fragen, die in der Bibel gar nicht behandelt werden, der die Bibel nicht als Offenbarung erforscht, sondern als Werkzeug gebraucht, der allzu häufig in der Beschäftigung mit Randfragen die Mitte der Schrift verliert. Der Bibel-Positivismus ist ein Missbrauch der Schrift, der die Gefahr des geistlichen Missbrauch von Menschen wesensmäßig in sich trägt. Eine solche Haltung ist nicht bibeltreu und sollte auch nicht so genannt werden.

Stufen

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Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse1

Vor ein paar Wochen habe ich mich aus der Gemeinde verabschiedet, die für die letzten zwanzig Jahre meine geistliche Heimat war. Dieser Schritt war überfällig, und der Abschied ist mir erstaunlich leicht gefallen – leichter jedenfalls, als den meisten übrigen Gemeindemitgliedern. Ich will nicht ausschließen, dass es in der Gemeinde auch Menschen gibt, die froh sind, dass ich endlich weg bin, aber mir gegenüber hat keiner sich auch nur ansatzweise in diese Richtung geäußert. Überhaupt bin ich von Gemeinde und Gemeindeleitung in den Jahren nach meinem Coming Out immer nur freundlich und mit großem Respekt behandelt worden. Und es wäre auch alles in Ordnung, wenn da nicht gewisse theologische Überzeugungen wären im Bezug auf LGBTQ+, die nichts anderes sind als pures Gift.

Wie bei anderen Giften die Biologen und Chemiker sind es hier Exegeten und Theologen, die ausführlich und kenntnisreich über die genaue Wirkung und die Schädlichkeit toxischer Theologie diskutieren können. Aber wer an der Giftwirkung einer Substanz zweifelt, dem steht es frei, mit einer (hoffentlich wohlabgemessenen) Dosis die Wirkung am eigenen Leib zu erfahren. Die schädliche Wirkung giftiger Theologie habe ich mehr als ausreichend erfahren, und das geht ja nicht nur mir so, nachzulesende Beispiele gibt es mittlerweile genug. Timo Platte hat in seinem Buch Nicht mehr schweigen 25 Lebensberichte zusammengetragen und veröffentlicht. Das Buch löst keine theologischen Detailfragen, aber es klärt die Frage, in welche Richtung die Theologie gehen muss, wenn sie Menschen nicht schaden, sondern helfen will.

In den letzten Monaten habe ich gespürt, dass ich die schädlichen Wirkungen toxischer Theologie nicht einfach durch Wechsel meiner Überzeugungen los werde, dass ich nicht einfach eine Auslegung des biblischen Textes durch eine andere ersetzen kann, und schon wird alles gut. Die Veränderung, so sie denn wirklich heilsam sein soll, muss tiefer gehen. Der Abschied aus meiner bisherigen Gemeinde ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg. Die Veränderung meiner theologischen Denkweise und damit auch meiner Beziehung zu Gott (beides hängt ja immer zusammen) ist ein längerer Prozess, dessen Auswirkungen ich allmählich spüre.

Meine bisherige theologische Praxis war vor allem apologetisch geprägt. Die Bibel diente mir zur Bestätigung und Verteidigung von Glaubensüberzeugungen, an deren grundsätzlicher Richtigkeit ich nie ernsthafte Zweifel hatte. Nicht selten habe ich dabei versucht zu verteidigen, was mit vernünftigen Mitteln nicht zu verteidigen ist. Der apologetische Ansatz soll zu einem festen, unerschütterlichen Glauben verhelfen, aber er führt allzu leicht zu einer erstarrten, toten Theologie, die zwar dem Namen nach noch Lehre von Gott ist, aber einem lebendigen Gott nicht mehr gerecht werden kann.

In den Gesprächen über den Glauben vor allem mit LGBTQ+-Christen, aber auch mit manchen alten Freunden, spüre ich allmählich, wie sich ein neues Element, eine neue Motivation zur theologischen Betrachtung Raum in meinem Denken verschafft: Es ist die Bereitschaft und der Wunsch, über all dem Neuen, dass es über Gott zu lernen gibt, meine alten, gewohnten Überzeugungen in Frage zu stellen, aufs Spiel zu setzen, preiszugeben. Es ist, zumindest in Ansätzen, aufkeimend, die reine, unverstellte Neugier. Und das ist gut so und darf gerne mehr werden.

In dieser Phase meines Lebens bin ich auf das eingangs zitierte Gedicht von Hermann Hesse gestoßen, das mich sehr berührt hat, und in dem ich mich wiederfinde. Meist wird ja das Ende der ersten Strophe zitiert, der Zauber des Anfangs, aber gerade davon spüre ich derzeit noch recht wenig. Der Abschied aus der Gemeinde ist noch im Wesentlichen Trennung und noch nicht wirklich Aufbruch, und noch geht es für mich eher um die Dekonstruktion toxischer Theologie, um meine geistliche Entgiftung als um den Aufbau neuer Glaubensinhalte. Aber Hesses Worte machen mir Mut zu beidem.

In der letzten Strophe des Gedichts geht es zwar um die Todesstunde, aber ich glaube, die allerletzte Zeile des Gedichts bezieht sich nicht nur auf die letzte Strophe, sondern auf das ganze Gedicht, nicht nur auf den Tod, sondern auf das Ende jeder Lebensphase. Das gilt für mich umso mehr, weil ich weiß, dass das ewige Leben nicht nur ein Versprechen für die Zukunft nach meinem leiblichen Tod, sondern durch den Heiligen Geist schon eine jetzt erfahrbare Wirklichkeit ist. Für Hesse ist es der Weltgeist, der uns Stuf’ um Stufe heben, weiten will, für mich ist die Lebendigkeit des Auferstandenen, die mich aus toxischem Umfeld heraushebt und meinen Blick weitet, auch den theologischen.

Ich denke, auch mit viel Dankbarkeit, an eine Gemeinde die zwanzig Jahre geistliche und theologische Heimat für mich war. Und dann denke ich: Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!


 

Schlechte Witze

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Die fünfte Jahreszeit ist vorüber, ebenso die üblichen politischen Aschermittwoche, und so langsam ebben auch die Diskussionen ab über das Zitat aus Annegret Kramp-Karrenbauers Rede beim Stockacher Narrengericht. Ich möchte es hier trotzdem noch einmal aufwärmen. Es lautet in voller – äh – Schönheit:

Guckt Euch doch mal die Männer von heute an: Wer war denn von Euch vor Kurzem mal in Berlin, da seht Ihr doch die Latte-Macchiato-Fraktion, die die Toiletten für das dritte Geschlecht einführen. Das ist für die Männer, die noch nicht wissen, ob sie noch stehen dürfen beim Pinkeln oder schon sitzen müssen. Dafür – dazwischen – ist diese Toilette.

Um erst mal das Offensichtliche aus dem Weg zu räumen: Natürlich darf man Witze über Minderheiten machen. Die meisten Witze drehen sich um Menschen oder um Gruppen, die auf die eine oder andere Weise eine Minderheit darstellen. Und natürlich darf man Witze machen, von denen sich Menschen angegriffen oder herabgesetzt fühlen. Zu fast jeden guten Witz wird sich jemand finden, der so empfindet. Und wenn es in Richtung Satire geht, besteht ja der Sinn des Witz gerade darin, Menschen anzugreifen, die es mutmaßlich verdient haben. Ralph Ruthe bringt das Problem in einem seiner Videos sehr gut auf den Punkt:

Trotzdem gibt es Unterschiede, gibt es gute und schlechte, angemessene und unangemessene Witze. Und auch wenn das eine subjektive Einschätzung ist: Kramp-Karrenbauers Witz ist für mich eindeutig unangemessen, und zwar gleich aus drei Gründen.

Zunächst macht es einen großen Unterschied, ob die Minderheit, über die man Witze macht, verfolgt oder gesellschaftlich anerkannt ist. Meine Mutter hat noch die letzten Kriegsjahre erlebt. Ihr Vater hatte während des Dritten Reichs eine junge Familie zu ernähren und musste sich dazu mit Menschen gut stellen, die er bestimmt viel lieber hochkant rausgeworfen hätte. Als Konsequenz aus diesen Erlebnissen wurde ich (Jahrzehnte später) so erzogen, dass Witze über Juden, egal in welcher Form, Tabu sind.

Natürlich ist die Situation Intergeschlechtlicher Menschen nicht vergleichbar mit der der Juden im Dritten Reich; sie werden nicht systematisch umgebracht, und sie leben in einem Rechtsstaat, in dem sie die Chance haben, ihre Rechte auch gegen eine inter-feindliche Politik durchzusetzen. Trotzdem ist die Lage nach wie vor erschreckend: So genannte kosmetische Genitaloperationen an Kindern, an denen die Betroffenen oft lebenslang leiden, sind immer noch üblich. Wir reden von einer Minderheit, deren Anderssein regelmäßig im Kindesalter wegoperiert wird – ohne jede Rücksicht auf die tatsächliche geschlechtliche Identität dieser Kinder, die ja im entsprechenden Alter meist noch nicht erkennbar ist. Dass bei Witzen über diese Menschen zumindest Vorsicht angebracht ist, sollte sich von selbst verstehen.

Denn es spielt auch eine sehr große Rolle, wie man Witze über eine Minderheit macht. Klischees können einem zuweilen ziemlich auf die Nerven gehen, sie können aber auch sehr amüsant sein. Als schwuler Mann finde ich viele Witze, die mit Schwulen-Klischees spielen, sehr lustig, das ist für mich in den meisten Fällen völlig ok. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn meine Identität oder gar mein Existenzrecht infrage gestellt oder geleugnet wird. Genau das tut zum Beispiel für die angehörigen indigener Völker das „Indianer“-Kostüm zu Fasching. Das ist für uns in Deutschland schwer zu begreifen, weil sowohl die reichhaltigen und unterschiedlichen Kulturen der indigenen Völker Amerikas als auch deren Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte für uns weit weg sind, aber das „Indianer“-Kostüm zieht tatsächlich deren ganze Kultur und Identität ins Lächerliche, wie das auch viele andere Kostüme tun, die fremde Völker zum Thema haben.

Genau in so eine Richtung geht aber der Witz Kramp-Karrenbauers: Sie macht sich nicht über die (tatsächlichen oder eingebildeten) Marotten oder Verhaltensweisen intergeschlechtlicher Menschen lustig, sie stellt Intergeschlechtlichkeit an sich als eine Marotte verunsicherter Männer dar. Sie leugnet damit die Existenz Intergeschlechtlicher Menschen als eigenständiger Gruppe, als eigenständige Kategorie geschlechtlicher, ja menschlicher Identität. Für die Betroffenen, die mitten im Kampf um rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung stehen, kann sich das nicht anders als wie ein unfairer Tiefschlag angefühlt haben.

Das führt mich zu meinem dritten Punkt, nämlich das es auch wichtig ist, wer einen Witz über eine Minderheit macht. Kramp-Karrenbauers Äußerung wurden häufig in Bezug zu Bernd Stelter gebracht, der sich zuvor in einer Faschings-Veranstaltung über Doppelnamen lustig gemacht hat und in diesem Zusammenhang auch über den Namen Kramp-Karrenbauers herzog. Bernd Stelter ist Komiker. Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, Witze zu machen. Nicht, dass das irgendwie falsch oder unbedeutend wäre, aber darüber hinaus hat er keine gesellschaftliche Bedeutung, keinen Einfluss.

Kramp-Karrenbauer ist Vorsitzende einer der größten politischen Parteien in Deutschland und wird in dieser Funktion als mögliche nächste Bundeskanzlerin gehandelt. Sie gehört zum Kreis der mächtigsten Politikern dieses Landes. Als Spitzenpolitikerin in einem demokratischen Rechtsstaats ist sie dem in der Verfassung festgeschriebenen Schutz von Minderheiten verpflichtet, zu denen laut Bundesverfassungsgericht auch intergeschlechtliche Menschen gehören. Sich in dieser Position einen Witz zu erlauben, der die Identität und das Existenzrecht intergeschlechtlicher Menschen in Frage stellt, hat ein ganz andere Qualität, als wenn Bernd Stelter das täte – und soweit ich weiß, tut er das nicht.

Es ist übrigens überhaupt nicht nötig, jetzt jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Jeder Mensch hat einen moralischen Kompass, und damit ein instinktives Gefühl, welche Witze angemessen sind und in welcher Situation. Dieser moralische Kompass ist aber nicht angeboren, sondern wird im Lauf des Lebens geformt, zuerst durch die Erziehung, später zunehmend durch eigenes Nachdenken und eigene Entscheidungen. Wem Minderheitenschutz ein wichtiges Anliegen ist, und wer sich auch gerne über die Anliegen von Minderheiten informiert, ist ganz von selbst wenig geneigt, herabsetzende Witze über Minderheiten zu machen, und muss dazu nicht mal groß nachdenken. Und wenn eine solche Person doch mal einen solchen Witz macht, wird sie, wenn sie darauf hingewiesen wird, ganz selbstverständlich den Witz aus ihrem Repertoire streichen und sich freuen, etwas Neues gelernt zu haben.

Kramp-Karrenbauer hat nicht deshalb einen unangemessen und herabsetzenden Witz über intergeschlechtliche Menschen gemacht, weil sie zu wenig aufgepasst hat, weil sie ihre Worte nicht auf die sprichwörtliche Goldwaage gelegt hat. Sie hat einen unangemessenen und herabsetzenden Witz gemacht, weil es ihr längst zur Gewohnheit geworden ist, sich herabsetzend über LGBTIQ+ zu äußern. Sie hat damit ihren moralischen Kompass schon so weit verbogen, dass ihr die Unangemessenheit ihres Witzes gar nicht mehr auffallen konnte. In diesem Sinne: Lasst unsere Politiker nur Witze machen: Sie verraten dabei vielleicht mehr über sich, als ihnen lieb sein kann.