Monatsarchiv: Mai 2019

Juda und Tamar, Teil 2

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Die folgenden Gedanken basieren auf meinem letzten Eintrag. Bitte den zuerst lesen. Danke.

Die Geschichte von Juda und Tamar in 1. Mose 38 lebt aus ethischen und philosophischen Vorstellungen, die wir heute für archaisch und menschenverachtend halten. Doch wenn man sich die Mühe macht, die Hülle dieser Vorstellungen abzustreifen, kommen ein paar interessante biblische Werte zum Vorschein, die über die Zeiten hinweg gültig sind.

Da wäre zuerst einmal Onan; er ist der einzige in der Geschichte, der für eine konkret benannte Tat von Gott bestraft wird: Er verweigert Tamar den Nachwuchs, weil der erste Sohn nicht als sein eigener, sondern als Sohn seines verstorbenen Bruders Ger gegolten hätte. Das ist ein recht eigensüchtiges Motiv, insbesondere wenn man bedenkt, was er Tamar damit antat. Ich erinnere daran, wie wichtig es für eine Frau damals war, Kinder zu bekommen, und wie sehr sowohl ihr Selbstwert als auch ihre gesellschaftliche Anerkennung davon abhingen. Onan erniedrigt seine Frau und gibt sie der Erniedrigung durch andere preis.

Auf Ehebruch stand damals in den meisten Fällen die Todesstrafe. Ist es zu weit hergeholt, die Tat Onans als Ehebruch zu definieren und seinen Tod als die von Gott vollstreckte Strafe dazu? Mann könnte sagen: Ehebruch vollzieht, wer seinen Partner oder seine Partnerin bewusst und aus selbstsüchtigen Motiven erniedrigt oder der Erniedrigung durch andere preisgibt. Es ist offensichtlich, dass das klassische Fremdgehen in dieser Definition enthalten ist. Onans Tat ist ganz gewiss kein klassisches Fremdgehen, aber in seiner Auswirkung auf Tamar nicht weniger schlimm und nicht weniger demütigend.

Schon in 1. Mose 2 heißt es, dass ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen wird, eine für die damaligen, patriarchalischen Familienverhältnisse sehr ungewöhnliche Formulierung, die zeigt, wie wichtig der Bibel von Anfang an die Zuwendung der Ehepartner zueinander ist. Und Paulus macht im Epheserbrief deutlich, dass diese Zuwendung zum Ziel haben muss, dass sich der Partner bzw. die Partnerin geehrt und wertgeschätzt fühlt. (Über die speziellen Auslegungsprobleme dieser Bibelstelle habe ich vor längerer Zeit etwas geschrieben.)

Onans Bestrafung stützt die Auffassung, dass Ehebruch im Kern eben nicht in sexuellen Handlungen mit Dritten besteht, sondern in der Demütigung und Erniedrigung des eigenen Partners bzw. der eigenen Partnerin. Das würde heißen, dass auch nicht sexuelle Handlungen als Ehebruch gelten könnten. Das würde auch heißen, dass sexuelle Handlungen, die im Einvernehmen der Ehepartner geschehen, und mit denen sich beide wohl fühlen, kein Ehebruch sein könnten.

Das zweite Thema des Textes ist für mich Sex als Mittel zum Zweck. Tamar hat sich ihr Recht erkämpft, indem sie mit Juda, ihrem Schwiegervater, geschlafen hat. Sie hätte das nicht tun müssen, sie hätte sich ebenso gut zurücknehmen und auf ihr Recht verzichten könnte. Juda tadelt sich selbst, dass Tamar zu solch einem Mittel greifen musste, aber er lobt Tamar, dass sie zu diesem Mittel gegriffen hat.

Kern des Problems ist natürlich ein Defizit bei der Rechtsdurchsetzung: Tamar hätte andere Mittel haben müssen, zu ihrem Recht zu kommen, als mit einem Mann zu schlafen, mit dem sie nicht verheiratet war, und an dem sie kein erotisches oder romantisches Interesse hatte. Wie die #MeToo-Debatte zeigt, ist dieses Problem nicht auf die Antike beschränkt: Noch immer erwarten Menschen mit Macht und Einfluss (meist Männer) sexuelle Zuwendung von anderen Menschen (meist Frauen) als Gegenleistung für lediglich gerechte Behandlung oder angemessene Förderung – von den viel schlimmeren Fällen der Ausnutzung von Abhängigkeiten und Notlagen mal abgesehen.

Juda verhielt sich zu keinem Zeitpunkt sexuell übergriffig. Dass Tamar sich ihr Recht dadurch verschaffen musste, dass sie mit Juda schlief, liegt an den Verhältnissen der Zeit und daran, dass es eben um ihr Recht auf Heirat und ihre Chance auf Kinder ging. Es liegt nicht daran, dass Juda so ein verhalten erwartet oder gar eingefordert hätte. Deshalb darf sein Urteil über sich selbst auch milde ausfallen. Diejenigen Täter, die bewusst und explizit sexuelle Handlungen einfordern, müssen mit aller Schärfe verurteilt werden. Diejenigen Opfer, die sich wehren und den Missbrauch öffentlich machen, müssen unterstützt und für ihren Mut geehrt werden. Das ist alles selbstverständlich.

Es gibt aber eine Konsequenz aus der Bibelstelle, die ich sehr wichtig finde: Diejenigen Opfer, die, wie Tamar, das perfide Spiel mitspielen, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, zu ihrem Recht zu kommen, weil es in ihrer Umgebung keinen anderen Weg für sie gibt zu einer verdienten Karriere oder einer gerechten Anerkennung ihrer Leistungen, diese Menschen haben sich nichts vorzuwerfen. Die Bibel hat kein Urteil für sie, ganz im Gegenteil: In solchen Situationen heiligt der Zweck die Mittel. Wenn es um sexuelle Belästigung oder Übergriffigkeit geht, handelt immer nur eine Seite verwerflich: Es ist immer der Täter, nie das Opfer.

Unter das Thema Sex als Mittel zum Zweck fällt natürlich auch die Prostitution. Ich wäre vorsichtig, aus dem Text Aussagen dazu ableiten zu wollen. Offensichtlich hat die Bibel weder ein Problem damit, dass Juda zu einer Prostituierten geht, noch dass sich Tamar unter den hier doch recht speziellen Umständen als solche anbietet. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass es aufgrund der gesellschaftlichen Wertvorstellungen für Juda einfach keine andere Möglichkeit gab: Prostituierte waren damals die einzigen Frauen, denen es erlaubt war, Sex mit Männern zu haben, mit denen sie nicht verheiratet waren. Wie gut, dass wir von solchen Gesellschaftsstrukturen heute weit entfernt sind – zu weit entfernt für mich, um aus diesem Text Aussagen zu aktuellen Formen von Sexarbeit zu entnehmen.

Aber das bringt uns zum dritten Thema: Sex außerhalb der Ehe. Beide, Juda und Tamar, sind verwitwet, es gibt keinen Partner, den sie hintergehen oder demütigen könnten. Für die damalige Gesellschaft war die Situation klar: Juda darf, Tamar nicht. Bei Tamar spielen Gründe eine Rolle, die heutzutage nicht mehr relevant sind, und die ich ja schon im Teil 1 beschrieben habe. Wenn es hier irgend eine sexuelle Reinheit zu verteidigen gäbe, die jenseits antiker Gesellschaftsstrukturen heute noch Relevanz hat, müsste das auch für Juda gelten, nicht nur für Tamar. Und für Juda ist Sex außerhalb der Ehe normal und natürlich; so normal, dass Tamar damit rechnen konnte, dass er jede der seltenen Gelegenheiten, die sich ihm bieten, auch nutzt. Die Bibel sieht darin bei Juda nichts verwerfliches, wieso sollte es das aus heutiger Sicht für Tamar sein? Wieso sollte es das für irgend jemand sein?

Tamar hat außerehelichen Geschlechtsverkehr mit Juda, das ist nach den Wertvorstellungen der damaligen Zeit verwerflich, nach dem Urteil der Bibel nicht. Juda hat Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten, das ist weder für die Wertvorstellungen der damaligen Zeit noch für die Bibel verwerflich. Verwerflich ist, dass Juda Tamar ihr Recht und die Chance auf legitimen Nachwuchs vorenthält. Verwerflich ist, dass Onan mit Tamar keine Kinder zeugen will, aber nicht weil Verhütung verwerflich ist, sondern weil er damit Tamar ihr Recht und die Chance auf legitimen Nachwuchs vorenthält. Und auch das ist nur verwerflich, weil Kinder zu bekommen damals für Selbstwert und gesellschaftliche Anerkennung einer Frau so immens wichtig war.

Wie wichtig das für Tamar war, ist für uns heute kaum nachzuvollziehen, aber mit diesen Unterschieden müssen wir generell rechnen: Was dem Einen sehr wichtig ist, kann dem Anderen völlig unwichtig sein. Allgemeine Regeln können diesen Unterschieden nicht gerecht werden, und wer solche Regeln aus der Bibel ableiten will, wird gerade solchen Geschichten wie der von Juda und Tamar nicht gerecht. Die Bibel stellt immer wieder die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Wertungen. Eine biblische Sexualethik muss dasselbe tun. Die Geschichte von Juda und Tamar liefert dazu wichtige Anhaltspunkte, sie weist in eine Richtung, in die es sich lohnt, weiterzugehen.

Juda und Tamar, Teil 1

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Auch wenn die Bibel Homosexualität im heutigen Sinne gar nicht behandelt, ist sie doch voll von Aussagen über Sexualität und den Umgang damit. Aber diese Aussagen werden vor einem Hintergrund ethischer Werte und philosophischer Vorstellungen gemacht, den wir heute (völlig zurecht) nicht mehr teilen, der aber für eine Auslegung, die dem Text gerecht wird, berücksichtigt werden muss.

Das ist gerade im Neuen Testament besonders schwierig, weil dieser Hintergrund selten explizit genannt wird. In den Evangelien werden Begegnungen mit Jesus erzählt, meist als sehr kleiner Ausschnitt aus einer größeren Lebensgeschichte, von der wir höchstens bruchstückhaft erfahren. Die Briefe enthalten konkrete Anweisungen und Richtlinien für konkrete Situationen – Situationen, die nicht explizit genannt werden müssen, weil sie den Empfängern ja wohlbekannt sind. Das richtige Verständnis neutestamentlicher Sexualethik setzt also Wissen voraus, das aus dem Text selbst nicht gewonnen werden kann.

Das Alte Testament erzählt uns dagegen häufig eine vollständige Geschichte. Der ethisch-philosophische Hintergrund unterscheidet sich zwar noch stärker als im Neuen Testament von unseren Auffassungen heute, ist aber oft deutlicher im Bibeltext selbst zu erkennen und herauszulösen. Ich möchte das mal an der Geschichte von Juda und Tamar versuchen, die in 1. Mose 38 zu finden ist.

Kurz zum Inhalt: Tamar ist die Ehefrau von Judas ältestem Sohn Ger, der jedoch (wegen nicht näher genannten Verstößen gegen den Willen Gottes) vorzeitig und kinderlos stirbt. Nach damaligem Recht bekommt Tamar Gers nächst jüngeren Bruder Onan zum Mann. Dieser verhütet aber durch unterbrochenen Beischlaf, was Gott überhaupt nicht gefällt, weswegen auch er kinderlos stirbt. Als nächster wäre Judas jüngster Sohn Sela dran, aber der ist noch zu jung für die Ehe. Tamar muss erst mal warten.

Nach ein paar Jahren Wartezeit wird klar, das Juda (entgegen geltenden Rechts) nie die Absicht hatte, Sela mit Tamar zu verheiraten. Tamar erfährt, dass Juda, mittlerweile selbst Witwer, zwecks Schafschur unterwegs ist. Sie verhüllt sich, verkleidet sich als Prostituierte und setzt sich an einen Ort, an dem auch Juda erwartet wird. Er schläft auch tatsächlich mit ihr, muss ihr aber unter anderem sein Siegel als Pfand da lassen, da er die versprochene Bezahlung (einen Ziegenbock) nicht zur Hand hat.

Tamar verhindert die Übergabe dieser Bezahlung und behält das Siegel. Als offensichtlich wird, dass sie schwanger ist, soll sie wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs hingerichtet werden, aber mit dem Siegel kann sie beweisen, das Juda der Vater ist. Juda erkennt an, dass Tamar richtig gehandelt hat, weil es Unrecht war, ihr seinen Sohn Sela zu verweigern.

Ich denke, als erstes stolpert der moderne Leser über das Institut der Schwagerehe. Dass eine kinderlose Witwe den nächst jüngeren Bruder ihres verstorbenen Mannes heiraten soll, ist aus heutiger Sicht völlig unverständlich, damals aber geltendes Recht, für das es drei aus damaliger Sicht durchaus nachvollziehbare Gründe gibt:

  • Als erstes geht es um das Erbrecht: Vererbt wird über den ältesten Sohn, und wenn dieser keine Nachkommen hat, ist die Situation unklar und kann zu Streit und Entzweiung in der Sippe führen. Das Ganze ist im Volk Israel von besonderer Wichtigkeit, da hier auch die Landzuteilung an die Stämme durcheinander geraten könnte, die ja geradezu Verfassungsrang hat. In der Schwagerehe ist diese Situation geklärt, weil der erste Sohn aus dieser Ehe als Sohn in erstgeborener Linie gilt.
  • Zweitens spielt der Schutz der Witwe eine große Rolle, denn nach dem Tod ihres Mannes ist sie weder reguläres Mitglied ihrer Herkunftsfamilie, noch der Familie ihres verstorbenen Mannes. In einer Kultur, in der nicht nur das soziale, sondern auch das materielle Überleben einer Frau von ihrer Zugehörigkeit zu einem Familienverband abhängig war, sorgte die Schwagerehe dafür, dass die Witwe weiterhin Teil der Familie ihres verstorbenen Mannes bleiben konnte.
  • Schließlich bestimmte sich Wert und Selbstwert einer Frau in der damaligen Kultur sehr stark anhand ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären. Für eine Frau bedeutete eine kinderlose Ehe eine starke Abwertung. Die Schwagerehe gab ihr die Möglichkeit, diesen Makel auszugleichen.

Noch viel schlimmer als die Schwagerehe empfinde ich die ungleiche Behandlung von Juda und Tamar. Beide waren verwitwet, als sie außerehelichen Sex hatten. Für Juda schien das völlig normal zu sein. Tamar hätte ihren gewagten Plan nicht gefasst, wenn sie nicht davon ausgegangen wäre, dass Juda die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen würde. Das war offensichtlich bekannt und gesellschaftlich anerkannt. Juda hätte auch nicht einen Freund mit der Bezahlung beauftragt, wenn er die Tatsache an sich hätte verheimlichen wollen. Er sorgte sich zwar um seinen Ruf, aber nicht weil er Sex mit einer Prostituierten hatte, sondern weil er sie nicht gerecht bezahlen konnte.

Ganz anders bei Tamar: Obwohl in der gleichen Lebenssituation wie Juda stand bei ihr auf außerehelichen Geschlechtsverkehr die Todesstrafe, und zwar weil sie eine Frau war. Diese Ungleichbehandlung ist für uns heute kaum erträglich, hat aber ihre Ursache in der antiken Sicht von Mann und Frau. In einem verbreiteten Vergleich wurde der Mann als Gärtner und die Frau als Garten angesehen. Der Vergleich war durchaus als Wertschätzung der Frau gedacht, weil sie als Trägerin und Bewahrerin ihres Gartens einen besonderen Wert besaß, den Männer nicht hatten. In der Praxis führte dieser Gedanke aber zu der erwähnten Ungleichbehandlung.

Wenn der Mann in einem fremden Garten gärtnert, fügt er nämlich dem eigenen Garten keinen Schaden zu. Und wenn der andere Garten noch einer Prostituierten gehört, ist nach damaliger Vorstellung auch da kein schützenswertes Gut geschädigt worden. Wenn eine Frau aber einen anderen Gärtner in ihren Garten lässt, wird dieser dadurch verunreinigt und entwertet. Für die Zerstörung dieses ihr anvertrauten, hohen Gutes war eine entsprechend harte Strafe vorgesehen. Besonders deutlich wird dies in den unsäglichen Vergewaltigungsgesetzen in 5. Mose 22: Grundsätzlich gibt es dort nur drei Kategorien von Frauen: verheiratete Frauen, verlobte Jungfrauen und nicht verlobte Jungfrauen. Eine Frau, die weder verheiratet noch Jungfrau war, galt offensichtlich nicht als schützenswert, ihr Garten war nach damaliger Ansicht ja sowieso schon quasi verwildert. Bei nicht verlobten Jungfrauen (also wenn kein anderer Mann „geschädigt“ wird) kann eine Vergewaltigung dadurch gesühnt werden, dass der Täter das Opfer heiratet. Das ist nur begreiflich, wenn man der Frau selbst keinen eigenen Wert zumisst, und sie nur noch als Trägerin und Bewahrerin ihres „Gartens“ begreift.

So menschenverachtend das für uns heute auch klingen mag: Dieses Gedankengut ist offensichtlich für die damalige Zeit selbstverständlich gewesen und bildete die Grundlage ethischer Bewertung in der Bibel. Und dieses Gedankengut ist ebenso offensichtlich erst einmal herauszulösen und abzuschälen, wenn in der Bibel von Sexualität die Rede ist, und zwar nicht nur an dieser Stelle, sondern definitiv überall im Alten Testament und mit Einschränkungen auch im Neuen Testament. Ohne diese Betrachtung ist jede Exegese zu diesem Thema wertlos.

Was bleibt dann von so einem Text übrig, was für uns heute anwendbar wäre? Darüber schreibe ich beim nächsten Mal.