Monatsarchiv: April 2017

Sichere Seite

Veröffentlicht am

Vor ein paar Wochen habe ich über Petrus geblogt, und wie Gott in einer Vision die ganzen jüdischen Reinheitsgebote für ungültig erklärt hat. Petrus hat richtig reagiert, er war der Vision gehorsam, nicht den Geboten, und der Segen, den Gott dafür schenkte, war mehr als offensichtlich. Aber Petrus war nicht ohne Fehler, und auch in dieser Sache nicht ohne Rückfall. Paulus beschreibt in seinem Brief an die Galater, wie Petrus und andere in Antiochia sich von bestimmten, konservativen judenchristlichen Kreisen verführen ließen und wieder in alte Verhaltensmuster zurückfielen: Speisevorschriften und Trennung von allen Nichtjuden.

Ich finde, das ist durchaus verständlich. Petrus tat nur, was ihm von klein auf als unumstößliches Gebot Gottes gelehrt wurde. Und die Judenchristen, die die Einhaltung der Gebote verlangten hatten hervorragende Argumente: Das Neue Testament war noch nicht geschrieben. Sie hatten die ganze, damalige Heilige Schrift auf ihrer Seite. Sie kämpften für die Autorität der Bibel als Wort Gottes gegen Zeitgeist und moderne Beliebigkeit.

Paulus hat alles andere als verständnisvoll reagiert, seine Reaktion war sehr heftig: Er wies Petrus, den von Jesus ernannten Felsen der Kirche, öffentlich zurecht. Und an die Christen in Galatien schrieb er in aller Deutlichkeit:

Schuldig mache ich mich dann, wenn ich wieder aufrichte, was ich abgerissen habe.

Der ganze Galaterbrief ist eine Streitschrift gegen die Gesetzlichkeit. Das gilt auch und gerade für die Frucht des Geistes nach Galater 5, Vers 22 und 23. Die Freiheit in Christus ist Kernstück eines jeden christlichen Glaubens, der sich zurecht so nennen darf. Sie ist keine Verhandlungsmasse im Diskurs mit konservativen Kräften.

Und wer diese Botschaft der Freiheit in Christus für Beliebigkeit hält, hat recht: Es ist Gottesbeliebigkeit. Es ist das unumstößliche Recht Gottes, der zu sein, der er ist und so zu entscheiden, wie er entscheidet. Er darf für rein erklären, was er zuvor für unrein erklärt hat. Er darf Gebote erlassen und Gebote abschaffen. Und wenn Gott selbst in unserem Leben Zäune niederreißt, dann darf niemand sie wieder aufrichten, auch nicht mit Blick auf die Gebote und die Heilige Schrift, auch nicht wir selbst.

Das Gesetz ist Teil der Offenbarung Gottes, und wir tun mit Sicherheit gut daran, es zu studieren und daraus zu lernen. Es ist aber nicht Teil der Heilsbotschaft in Jesus Christus, und wer versucht, es dazu zu machen, macht sich schuldig.

Mir wurde heute wieder mal geraten, mich nicht auf eine gleichgeschlechtliche Beziehung einzulassen, weil das nach Gottes Ordnung und seinen Geboten ins Unglück führen müsse. Ich teile diese Auffassung nicht, aber ich könnte auf Nummer sicher gehen und freiwillig auf eine Beziehung verzichten, aber damit würde ich – mit Paulus‘ Worten – wieder aufrichten, was ich abgerissen habe. Ich würde die Freiheit, die Christus mir geschenkt hat, verleugnen. Ich würde mich schuldig machen.

Es gibt für einen wahren Christen keine sichere Seite. Es gibt nicht die Möglichkeit, lieber ein paar Gebote zu viel einzuhalten, damit man ja nichts falsch macht. Gebote einzuhalten, die Gott abgeschafft hat, ist nicht weniger ungehorsam, als Gebote zu übertreten, die er für gültig erklärt hat. Christsein besteht nicht aus dem Halten von Geboten, Christsein ist die Nachfolge Christi. Dazu hat er uns Christen mit dem Heiligen Geist ausgestattet.

Gegen Ende des Galaterbriefs, nach langen Tiraden gegen die Gesetzlichkeit, schreibt Paulus von der Frucht des Geistes, von Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung. Alles, was aus der geistlichen Abhängigkeit von Jesus heraus getan wird, trägt diese Kennzeichen. Manche dieser Taten mag geschriebenen Geboten widersprechen, aber nichts davon widerspricht dem Willen Gottes. Gegen all das, so Paulus, steht kein Gesetz.

Ich denke, jeder Christ sollte das Gesetz, wie es in der Heiligen Schrift entfaltet wird, möglichst genau kennen und möglichst viel daraus lernen. Aber Mittelpunkt des Glaubens ist die Nachfolge Christi, wie sie der Heilige Geist führt. Und wer es lernt, sich vom Geist leiten zu lassen, wer die Frucht des Geistes erlebt, für den gibt es kein Gesetz. Petrus hat sich in Antiochia verführen lassen. Er hat die vermeintlich sichere Seite gewählt, die eher zu viel als zu wenig Gebote hält. Er hat das Gesetz über die Nachfolge gestellt. Die sichere Seite kann eine starke Versuchung sein. Vor dieser Versuchung sollten wir uns hüten.

Dieser ist Gottes Sohn gewesen

Veröffentlicht am

Paulus schrieb an die Korinther, dass die Predigt vom Kreuz den Heiden eine Torheit ist. Kein Wunder: Welche Religion sonst hat ein Gerät zur Vollstreckung der Todesstrafe als Symbol? Es wurde schon der Vorschlag gemacht, die Kreuze in den Kirchen durch Galgen zu ersetzen, um sich dieser Tatsache wieder mehr bewusst zu werden.

Trotzdem hielt es Paulus für richtig, gegenüber den Korinthern nichts zu wissen als Jesus, den Gekreuzigten. Die Torheit ist für ihn zugleich zentrale Botschaft. Ohne Jesu Tod am Kreuz ergibt für ihn (und für mich) der christliche Glaube nicht den geringsten Sinn. Einer der ersten, die diesen Sinn zumindest teilweise erkannten, war ein Heide, ein Römer, nämlich der Hauptmann des Hinrichtungskommandos. Ihn und seine Mannschaft erfasst ein tiefer Schrecken angesichts der Ereignisse, die Jesu Tod begleiten. Der Evangelist Matthäus beschreibt diese Ereignisse so:

Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!

Hat der Hauptmann in diesem Moment wirklich begriffen, wer dieser Mensch am Kreuz war, und was das für ihn bedeutete? Vermutlich nicht. Für ihn als Römer war schon der Titel „Gottes Sohn“ weit weniger exklusiv als für einen Juden. Als Teil der römischen Besatzungsmacht war ihm der Glaube an den kommenden Messias vermutlich nicht völlig fremd, aber doch in weiten Teilen unverständlich. Aber trotzdem begriff er, dass da nicht nur einer der üblichen Verbrecher am Kreuz gestorben war. Er war der erste, der den Gekreuzigten als Gottes Sohn bezeichnete.

Ich bin mit Sicherheit kein Gegner gründlichen Bibelstudiums und solider Theologie. Aber machmal ist das einfach unnötig, vielleicht sogar hinderlich. Wir dürfen uns nicht einbilden, Gott verstehen oder ergründen zu können. Das Kreuz wird für uns immer ein Rätsel bleiben, eine Torheit, wenn selbst Gott es uns nicht offenbart. Dem römischen Hauptmann offenbart sich Gott. Das ist weniger dramatisch als der zerrissene Vorhang mit seiner tiefgreifenden Symbolik, weniger spektakulär als das Erdbeben und weniger mystisch als die Toten, die vielen erscheinen. Es ist deshalb nicht weniger übernatürlich.

Bach hat dies in seine Matthäuspassion verpackt, und der Dirigent Karl Richter hat es wie kein zweiter herausgearbeitet. Man hört quasi den Vorhang reißen und die Erde beben, alles sehr dramatisch, aber alles auch sehr irdisch. Die materielle Welt reagiert auf den Tod des Erlösers. Aber dann kommen die Stimmen des Hauptmanns und seiner Mannschaft. (Weil es nach biblischem Wortlaut mehrere sind, die sprechen, besetzt Bach den Chor.) Diese Stimmen sind alles andere als irdisch, sie kommen musikalisch aus einer anderen Sphäre, aus einer anderen Welt, genau so wie die Erkenntnis des Hauptmanns nicht von dieser Welt ist.

Die Aufnahme stammt aus meinem Geburtsjahr. Es gibt modernere Aufnahmen, die wahrscheinlich eher den ursprünglichen Gedanken und Vorstellungen Johann Sebastian Bachs entsprechen, aber gerade diese Stelle gelingt keinem so einfühlsam, so tiefgründig wie dem längst verstorbenen Karl Richter:

Man kann versuchen, das Kreuz zu verstehen. Man kann es sich auch von Gott offenbaren lassen. Paulus wollte nichts wissen als nur Jesus Christus, den Gekreuzigten. Das klingt nach wenig, aber wenn dieses Wissen wirklich von Gott kommt, ist es mehr als genug.

Wenn Gott einfach handelt

Veröffentlicht am

Hunger hat schon zu mancher Revolution geführt, aber nur selten, wenn lediglich eine Person hungrig war. Die Apostelgeschichte berichtet im zehnten Kapitel von einem hungrigen Petrus, der eine Vision vom Essen hat. Von Essen, das für ihn als gläubigen Juden tabu ist, weil es nicht den jüdischen Reinheitsvorschriften entspricht. Es ist aber nicht irgendwer, der Petrus diese verbotene Nahrung anbietet, es ist Gott selbst, der sagt: „Schlachte und iss!“

Gott widerspricht sich. Die ganzen Speisevorschriften, das ganze jüdische Gesetz kommt direkt von ihm. Aus heiterem Himmel und ohne Begründung erklärt er für rein, was er selbst vormals für unrein erklärt hat. Paulus entwirft später eine umfassende theologische Begründung, warum das ganze jüdische Gesetz und damit auch die Reinheits- und Speisegebote plötzlich nicht mehr gelten, aber zwischen der Vision des Petrus und den ersten Paulusbriefen liegen viele Jahre. Wir Menschen brauchen Begründungen, brauchen Logik und überzeugende Argumente, Gott hat das nicht nötig. Die Heiden sollen endlich das Evangelium erhalten, und Gott handelt einfach. Theologie kann warten.

Unter all seinen Jüngern hat Gott den impulsiven Petrus zum Felsen bestimmt, auf den er seine Kirche bauen will. Hier zeigt sich warum, denn Petrus schafft es, all seine Bedenken zur Seite zu schieben, seine Verwirrung und nicht zuletzt den Großteil seiner jüdischen Erziehung. Gott handelt, und Petrus will nicht nur zuschauen. Er will Teil von Gottes Handeln sein, eine aktive Rolle übernehmen, koste es, was es wolle. Das war in jener Nacht auf dem See Genezareth so, als Jesus den Jüngern übers Wasser entgegen kam. Das war bei der Ausgießung des Heiligen Geistes so, als Petrus das Wort ergriff und zu Tausenden von Menschen predigte. Das war auch in der Nacht vor der Kreuzigung so, als Petrus zuerst das Schwert gegen einen Menschen erhob und sich dann in den Hof des Hohen Rates drängte und Jesus verleugnete.

Nicht alles, was Petrus anfasst, wird zu Gold. Manchmal handelt er sich mit seiner Impulsivität und seinem Sich-in-den-Mittelpunkt-drängen auch richtig Ärger ein. Manchmal stürmt er voran, wenn Geduld gefragt ist, und Gott muss ihn wieder einfangen, mitunter sogar recht unsanft. Dennoch ist es nicht einer der Geduldigen unter den Jüngern, einer der gründlich nachdenkt und wohl überlegt handelt, die Gott als Fundament seiner Kirche auswählt. Es ist das Verlangen, mit von der Partie zu sein, wenn Gott handelt, das Petrus antreibt, und das ihn für seine Aufgabe qualifiziert.

Petrus geht mit den Boten mit, die der römische Hauptmann Kornelius entsandt hat. Er geht in dessen Haus und bleibt dort mehrere Tage als Gast. Hinterher muss er sich dafür rechtfertigen. Seine Theologie ist ganz einfach. Er erzählt die ganze, unglaubliche Geschichte und schließt mit dem wunderbaren Satz:

Wer bin ich, dass ich Gott in den Weg treten könnte?

Ich bin nun wahrlich kein Petrus. Ich bin weder so impulsiv, noch so mutig, und spontane Reaktionen erwartet man bei mir meist vergeblich. Ich gehöre eher zu den Menschen, die lieber drei mal gründlich überlegen, bevor sie entscheiden. Das ist ja nicht falsch. Unter den zwölf Jüngern gab es auch nur einen Petrus. Aber den Wunsch, mitten drin zu sein, wenn Gott handelt, den kenne ich sehr gut. Er hat mich schon oft in meinem Leben angetrieben und mir zu einigen meiner tiefsten und beeindruckendsten geistlichen Erlebnissen verholfen.

Leider hat dieser Wunsch bei mir über die Jahre deutlich nachgelassen. Häufig war und bin ich schon zufrieden, wenn Gott mich einfach in Ruhe lässt. Das ist nicht gut, und das soll auch nicht so bleiben. Ich wünsche mir, dass diese Sehnsucht wieder wächst, dass ich bereit bin, mich mitreißen zu lassen, wenn Gott handelt, und dass ich dabei weder Gott noch mir selbst im Weg stehe. Bei aller berechtigter Unterschiedlichkeit: Ich bräuchte mal wieder eine solide Portion Petrus in meinem Leben.

Noch etwas: Petrus hatte sich zum Gebet zurückgezogen, als Gott ihm die Vision schenkte. Dann klicke ich mal auf Publizieren und tue das gleiche …