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Archiv der Kategorie: persönlich

Ab und zu ein paar Geigen

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Heute gibt es Musik von Maybebop und der NDR Radiophilharmonie:

Ich finde mich in dem Lied wieder. Ich bin oft zögerlich, brauche lange für Entscheidungen und gehe ungern Risiken ein. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass das Leben an mir vorbeizieht, weil ich die Gelegenheiten, die es mir bietet, nicht wahrnehme.

Im Film ist alles viel einfacher: Es gibt ein Drehbuch, das alle Irrungen und Wendungen auf dem Weg zum Happy End genau vorgibt, das klar erkennen lässt, was die wichtigsten Momenten, die Schlüsselstellen für die Entwicklung des Protagonisten sind. Und falls eventuell ein mäßig begabter Schauspieler mit der Darstellung eines solchen Momentes überfordert sein sollte, gibt es die Filmmusik, die die richtige Stimmung erzeugt und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden hilft.

Das wahre Leben hat keinen Soundtrack. Wie praktisch wäre es, wenn sanfte Geigen unsere romantischen und Blechbläser unsere heroischen Momente begleiten, ja ankündigen würden. Manche Entscheidung, manche Aktion fiele sehr viel leichter, und wir würden viel weniger Gefahr laufen, den richtigen Moment zu verpassen oder an den Wendepunkten unseres Lebens vorbei zu laufen.

Der richtige Moment hieß bei den alten Griechen Kairos. Er ist in der altgriechischen Kultur so wichtig, dass er als Gott verehrt wurde. Auch in der Bibel ist er von großer Bedeutung. Als die Zeit erfüllt war und Jesus begann, öffentlich aufzutreten, ist vom Kairos die Rede, ebenso wenn Paulus die Epheser anweist: „Kauft die Zeit aus.“ Gott handelt nicht irgendwann. Er handelt zum richtigen Zeitpunkt, zum Kairos, und das soll wohl auch für seine Kinder gelten.

Und wie erkennt man ihn nun, den Kairos? Ich habe immer mal wieder versucht, das zu erzwingen; zum Beispiel indem ich mich selbst unter Druck gesetzt habe, immer aufmerksam zu sein und keine Gelegenheit zu verpassen. Sehr ermüdend. Oder ich wollte Gott dazu bringen, sich doch gefälligst deutlich auszudrücken und mir endlich klar zu zeigen, was er von mir erwartet. Aber welchen Erfolg soll es haben, den Schöpfer des Himmels und der Erde unter Druck setzen zu wollen?

Beides jedoch verstopft die Ohren für die Stimme Gottes. Das ist ja gerade das unglaubliche: Die Stimme, durch deren Worte das Universum entstanden ist, erklingt in meinem Geist leise, bescheiden, als eine von vielen. Und nicht zuletzt häufig unerwartet, sowohl in dem, was sie sagt, als auch in dem, wie sie es sagt. Nicht selten übernimmt sie die Rolle der Filmmusik: Mal erhöht sie die Spannung, mal schenkt Ruhe, oft bestätigt sie Eindrücke, die ich habe, und manchmal lässt sie die Stimmung auch komplett kippen.

Bei dem Lied von Maybebop dachte ich zuerst, wie schön das wäre, so ab und zu ein paar Geigen zu hören, die einen auf den richtigen Moment, den Kairos hinweisen. Erst beim zweiten Hören ist mir aufgefallen, dass ich solche Geigen-Momente schon erlebt habe, nicht übermäßig oft, aber doch einige Male in den letzten Jahren. Dass es Gottes Stimme war, die zum entscheidenden Zeitpunkt die richtige Stimmung, die richtige Erwartungshaltung in mir hervorgerufen hat. Und so schleicht sich Gott an meinen Ängsten vorbei, untergräbt meine Bedenken und hebelt mein Zögern aus.

Auf diese Weise habe ich schon den einen oder anderen unerwarteten Weg eingeschlagen, unerwartet vor allem, weil ich mir vorher nicht hätte vorstellen können, dass Gott so einen Weg mit mir gehen würde. Es ist wie in einem guten Film: Die Handlung ist nicht vorhersehbar, man muss auf Überraschungen gefasst sein. Und doch ergibt alles letztlich einen Sinn. Ich glaube zwar nicht, dass es zu meinem Leben ein festes Drehbuch gibt, aber ich bin überzeugt, dass der Soundtrack zu meinem Leben im Himmel geschrieben wird, und ab und zu, ganz leise, höre ich ihn schon spielen.

Stufen

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Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse1

Vor ein paar Wochen habe ich mich aus der Gemeinde verabschiedet, die für die letzten zwanzig Jahre meine geistliche Heimat war. Dieser Schritt war überfällig, und der Abschied ist mir erstaunlich leicht gefallen – leichter jedenfalls, als den meisten übrigen Gemeindemitgliedern. Ich will nicht ausschließen, dass es in der Gemeinde auch Menschen gibt, die froh sind, dass ich endlich weg bin, aber mir gegenüber hat keiner sich auch nur ansatzweise in diese Richtung geäußert. Überhaupt bin ich von Gemeinde und Gemeindeleitung in den Jahren nach meinem Coming Out immer nur freundlich und mit großem Respekt behandelt worden. Und es wäre auch alles in Ordnung, wenn da nicht gewisse theologische Überzeugungen wären im Bezug auf LGBTQ+, die nichts anderes sind als pures Gift.

Wie bei anderen Giften die Biologen und Chemiker sind es hier Exegeten und Theologen, die ausführlich und kenntnisreich über die genaue Wirkung und die Schädlichkeit toxischer Theologie diskutieren können. Aber wer an der Giftwirkung einer Substanz zweifelt, dem steht es frei, mit einer (hoffentlich wohlabgemessenen) Dosis die Wirkung am eigenen Leib zu erfahren. Die schädliche Wirkung giftiger Theologie habe ich mehr als ausreichend erfahren, und das geht ja nicht nur mir so, nachzulesende Beispiele gibt es mittlerweile genug. Timo Platte hat in seinem Buch Nicht mehr schweigen 25 Lebensberichte zusammengetragen und veröffentlicht. Das Buch löst keine theologischen Detailfragen, aber es klärt die Frage, in welche Richtung die Theologie gehen muss, wenn sie Menschen nicht schaden, sondern helfen will.

In den letzten Monaten habe ich gespürt, dass ich die schädlichen Wirkungen toxischer Theologie nicht einfach durch Wechsel meiner Überzeugungen los werde, dass ich nicht einfach eine Auslegung des biblischen Textes durch eine andere ersetzen kann, und schon wird alles gut. Die Veränderung, so sie denn wirklich heilsam sein soll, muss tiefer gehen. Der Abschied aus meiner bisherigen Gemeinde ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg. Die Veränderung meiner theologischen Denkweise und damit auch meiner Beziehung zu Gott (beides hängt ja immer zusammen) ist ein längerer Prozess, dessen Auswirkungen ich allmählich spüre.

Meine bisherige theologische Praxis war vor allem apologetisch geprägt. Die Bibel diente mir zur Bestätigung und Verteidigung von Glaubensüberzeugungen, an deren grundsätzlicher Richtigkeit ich nie ernsthafte Zweifel hatte. Nicht selten habe ich dabei versucht zu verteidigen, was mit vernünftigen Mitteln nicht zu verteidigen ist. Der apologetische Ansatz soll zu einem festen, unerschütterlichen Glauben verhelfen, aber er führt allzu leicht zu einer erstarrten, toten Theologie, die zwar dem Namen nach noch Lehre von Gott ist, aber einem lebendigen Gott nicht mehr gerecht werden kann.

In den Gesprächen über den Glauben vor allem mit LGBTQ+-Christen, aber auch mit manchen alten Freunden, spüre ich allmählich, wie sich ein neues Element, eine neue Motivation zur theologischen Betrachtung Raum in meinem Denken verschafft: Es ist die Bereitschaft und der Wunsch, über all dem Neuen, dass es über Gott zu lernen gibt, meine alten, gewohnten Überzeugungen in Frage zu stellen, aufs Spiel zu setzen, preiszugeben. Es ist, zumindest in Ansätzen, aufkeimend, die reine, unverstellte Neugier. Und das ist gut so und darf gerne mehr werden.

In dieser Phase meines Lebens bin ich auf das eingangs zitierte Gedicht von Hermann Hesse gestoßen, das mich sehr berührt hat, und in dem ich mich wiederfinde. Meist wird ja das Ende der ersten Strophe zitiert, der Zauber des Anfangs, aber gerade davon spüre ich derzeit noch recht wenig. Der Abschied aus der Gemeinde ist noch im Wesentlichen Trennung und noch nicht wirklich Aufbruch, und noch geht es für mich eher um die Dekonstruktion toxischer Theologie, um meine geistliche Entgiftung als um den Aufbau neuer Glaubensinhalte. Aber Hesses Worte machen mir Mut zu beidem.

In der letzten Strophe des Gedichts geht es zwar um die Todesstunde, aber ich glaube, die allerletzte Zeile des Gedichts bezieht sich nicht nur auf die letzte Strophe, sondern auf das ganze Gedicht, nicht nur auf den Tod, sondern auf das Ende jeder Lebensphase. Das gilt für mich umso mehr, weil ich weiß, dass das ewige Leben nicht nur ein Versprechen für die Zukunft nach meinem leiblichen Tod, sondern durch den Heiligen Geist schon eine jetzt erfahrbare Wirklichkeit ist. Für Hesse ist es der Weltgeist, der uns Stuf’ um Stufe heben, weiten will, für mich ist die Lebendigkeit des Auferstandenen, die mich aus toxischem Umfeld heraushebt und meinen Blick weitet, auch den theologischen.

Ich denke, auch mit viel Dankbarkeit, an eine Gemeinde die zwanzig Jahre geistliche und theologische Heimat für mich war. Und dann denke ich: Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!


 

No Place in Heaven

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So lautet der Titel eines Liedes des libanesisch-britischen Sängers Mika, auf das ich letzte Woche gestoßen bin, und das mich sehr angesprochen hat. Der Titel und das gleichnamige Album wurden allerdings schon vor zweieinhalb Jahren veröffentlicht. Ich kann beides nur sehr empfehlen.

Ich möchte den Text des Liedes hier nur auszugsweise wiedergeben, um das Zitatrecht nicht überzustrapazieren. Er ist (mit etwas Suche) auf der Lyrics-Seite des Künstlers und natürlich auch sonst im Internet zu finden. Ein Youtube-Video kann ich aber guten Gewissens einbinden:

Die titelgebende Zeile stammt aus dem Refrain und lautet vollständig:

There’s no place in heaven for someone like me.

Es gibt keinen Platz im Himmel für jemanden wie mich.

Das Lied ist sehr wahrscheinlich aus der Perspektive eines schwulen oder bisexuellen Menschen geschrieben. Das zeigt nicht nur die Textzeile: „for every love I had to hide“ (für jede Liebe, die ich verbergen musste), sondern das legen auch ein paar andere Songs auf demselben Album nahe. Mika selbst ist nach eigenen Angaben nicht hetero und soll aus katholischem Hintergrund kommen. Wenn man die vielen Äußerungen katholischer Würdenträger zum Thema Homosexualität kennt, ist es leicht nachvollziehbar, dass ein schwuler oder bisexueller Katholik glaubt, im Himmel nicht willkommen zu sein.

Der Sänger gibt sich mit diesem Schicksal nicht zufrieden und wendet sich an die richtige Stelle. Das Lied beginnt mit den Zeilen:

Father, will you forgive me for my sins?
Father, if there’s a heaven, let me in.

Vater, wirst Du mir meine Sünden vergeben?
Vater, wenn es den Himmel wirklich gibt, lass mich rein.

Das Lied ist in der Tat ein Gebet, und ein sehr flehendes Gebet noch dazu. Der Sänger wünscht sich und bittet darum, bei Gott noch eine Chance zu bekommen, obwohl es doch eigentlich keinen Platz im Himmel für ihn gäbe. Viele der beschriebenen Gefühle kann ich sehr gut nachvollziehen. Besonders angesprochen haben mich die folgenden Zeilen:

In between us an ocean can be found.
How long will I swim before I drown?

Zwischen uns ist ein Ozean zu finden.
Wie lange werde ich schwimmen, bevor ich ertrinke?

Ich kenne das aus meiner Vergangenheit: Die Trennung von Gott kann sich wie ein weites Meer anfühlen, und die einzige Chance ist, trotzdem in Richtung Gott loszuschwimmen, auch wenn die Entfernung weiter ist, als die eigenen Kräfte (nach menschlichem Ermessen) reichen können.

Dem Text nach könnte man ein sehr trauriges, ja ein verzweifeltes Lied erwarten, aber die Musik lässt das nicht zu. Sie hat natürlich einen flehenden Klang, aber der musikalische Schwerpunkt liegt woanders. Für mich transportiert die Musik vor allem eines: Hoffnung. Fröhliche, zuversichtliche Hoffnung.

Gerade das macht das Lied für mich so besonders. Ich bin ein Mensch, der sich (wie viele) nach Gewissheit sehnt. Ich denke oft, dass erst sicheres Wissen mir die Geborgenheit und Sicherheit gibt, nach der ich mich sehne. Hoffnung ist mir da oft zu wenig, zu vage. Auch in meiner Sehnsucht nach Gewissheit finde ich mich in dem Liedtext wieder. Aber der Musiker Mika enthält mir die Erfüllung dieser Sehnsucht vor. Die drängenden Fragen, die er stellt, erhalten keine Antwort. Stattdessen spielt er ein Lied der Hoffnung, das trotz offener Fragen Zuversicht und Freude vermittelt.

Mir fällt 1. Korinther 13 ein: Alle Erkenntnis wird verschwinden. Bleiben werden Glaube, Hoffnung und Liebe. Und auch wenn die Liebe die größte unter diesen dreien ist, kann das kein Grund sein, die Hoffnung zu vernachlässigen.

Meine Möglichkeiten sind ebenso begrenzt wie mein Horizont. Gott hat da immer noch ein Ass im Ärmel. Ich verwende dieses Bild bewusst, gerade weil das Ass im Ärmel beim Kartenspiel einen Regelverstoß, ja einen Betrug darstellt. Auch wer davon überzeugt ist, dass es für jemand wie ihn keinen Platz im Himmel gibt, hat keinen Grund, die Hoffnung aufzugeben. Jeder Bibelleser weiß, wie flexibel Gott mit seinen eigenen Spielregeln umgeht, wenn es darum geht, Hoffnungslosen neue Hoffnung zu geben. Fakten können manchmal ziemlich irreführend sein, wenn der Allmächtige ins Spiel kommt. Die bloße Hoffnung auf den lebendigen Gott kann realer sein als alles, was wir Realität nennen.

Für mich ist das Lied eine Ermutigung, die fröhliche Hoffnung als Weg in die Nähe Gottes  neu zu entdecken und wertzuschätzen. Der Inhalt meines Gebetes darf Sorge und Verunsicherung sein. Der Ton, der Klang meines Gebetes soll Freude und Zuversicht, soll Hoffnung sein. Mikas Lied hat mir geholfen zu verstehen, dass dies kein Widerspruch ist.  Danke dafür.

Magengrimmen

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In den letzten eineinhalb Wochen tourte die sogenannte Demo für alle mit einem Bus durch Deutschland, am Freitag wurde als letzter Stopp Berlin angefahren. Die Initiatoren kämpfen mit diesem Bus gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen, gegen trans*-Rechte und gegen vernünftige Schulaufklärung. Queer.de bezeichnet den Bus als Hass-Bus. Ich weiß nicht, ob diese Bezeichnung wirklich zutreffend ist. Ich glaube nicht, dass Hass die wesentliche Motivation der Demo für alle ist, ich kann mir sogar vorstellen, dass sie tatsächlich glauben, aus bester Absicht zu handeln. Aber sie verbreiten eine Botschaft der Ausgrenzung und Herabwürdigung gegen alle, die nicht ihrem heteronormativen Schema entsprechen. Und diese Botschaft wird, wo sie auf fruchtbaren Boden fällt, Hass verstärken und Hass legitimieren.

Zum Glück fällt sie nicht auf sonderlich fruchtbaren Boden. In jeder einzelnen Stadt war die Gruppe der Gegendemonstranten um ein Vielfaches größer als das kleine Häuflein an Mitarbeitern und Interessenten. Was mir persönlich Sorgen macht, ist nicht die Größe dieses fruchtbaren Bodens, sondern dessen Nähe zu mir. Die Demo for alle argumentiert mit angeblich biblischen Wahrheiten und angeblich christlichen Werten, und ich sehe, wie Christen in meinem Umfeld diesen Unsinn glauben, und manchmal leider auch die Lügen und Verleumdungen, die oft damit verbunden sind.

Davon, was das bei mir auslöst, habe ich vor ein paar Wochen schon geschrieben. Seither ist das Thema deutlich näher an mich herangekommen. Eine Hauskreisteilnehmerin hat eine zutiefst homophobe und verleumderische Petition zur Zeichnung empfohlen, die aus demselben Umfeld wie dieser Bus kommt. Und am vergangenen Sonntag wählte der Prediger die Ehe für alle als Beispiel für den allgemeinen Abfall vom Glauben in der Endzeit und als Vorzeichen für den heraufziehenden Antichristen. Ich schrieb Anfang Juli, dass ich Angst hätte vor LGBT-feindlichen Äußerungen im Gottesdienst. Seit letzten Sonntag weiß ich, dass die Angst berechtigt war.

Ich habe mir in diesem Moment ernsthaft überlegt, den Gottesdienst zu verlassen. Ich hab’s nicht getan. Bei der Entscheidung zu bleiben war sicher auch eine gute Portion Feigheit mit im Spiel. Aber entscheidend war der Gedanke, dass ich als geoutetes, schwules Mitglied meiner Gemeinde nicht vor derartigen Botschaften fliehen, mich nicht verstecken muss. Als schwuler Christ darf ich, ja soll ich erhobenen Hauptes dafür stehen, dass Gott mich absichtsvoll so geschaffen hat, und das er mich liebt, wie ich bin, egal wie andere darüber denken. Das Problem ist: Ich stehe diese Haltung nicht auf Dauer durch.

Ich denke, ich habe damit gerechnet, dass derart LGBT-feindliche Positionen in meiner Gemeinde ohne öffentlichen Widerspruch geäußert werden dürfen. Dass es dann tatsächlich so gekommen ist, hat mich trotzdem tief getroffen. Die Angst hat sich verstärkt und mir auf den Magen geschlagen. Aus dem metaphorischen Magengrimmen ist mittlerweile ein tatsächliches, physisches geworden, und ich muss mir allmählich überlegen, ob ich daraus nicht Konsequenzen ziehen muss.

Die übliche Empfehlung in so einer Frage wäre vermutlich, der Gemeinde den Rücken zuzukehren. Ich habe schon oft den Rat gehört, auf Abstand zu denen zu gehen, die einen nicht akzeptieren können, wie man ist, weil es genügend Leute gibt, die damit kein Problem haben. Dummerweise enthält die Gemeinde für mich beides: Ein paar meiner besten Freunde und Unterstützer sind Gemeindemitglieder, und gerade die Zusammenarbeit und das gemeinsame Leben in der Gemeinde mit diesen Menschen bedeutet mir sehr viel.

Wir haben zusammen viel Zeit und Arbeit in unseren Dienst in der Gemeinde gesteckt und gemeinsam etwas aufgebaut, was der Gemeinde gut tut und wichtig für sie ist. Wenn ich nicht mehr in den Gottesdienst gehe, wird dadurch vermutlich ein erheblicher Teil davon zerstört. Aber wenn ich weiter in den Gottesdienst gehe, muss ich auch weiter mit dieser Angst leben und gefährde womöglich dadurch auf Dauer meine Gesundheit.

Ich wünschte, ich könnte das einfach so wegstecken, haters gonna hate, so ist das nun mal. Bis das passiert, muss ich irgendwie mit der Situation umgehen, aber wie ich das tun soll, da bin ich im Moment ziemlich ratlos.

In a Heartbeat

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Ich bin zuweilen etwas langsam. Nicht nur, weil dieser Beitrag erst an einem Montag fertig wird, obwohl ich normalerweise versuche, sonntags zu veröffentlichen. Auch mit dem heutigen Thema springe ich auf einen längst fahrenden Zug auf. Der computeranimierte Kurzfilm In a Heartbeat, um den es heute gehen soll, wurde genau vor zwei Wochen veröffentlicht. Seitdem hat gefühlt schon alle Welt darauf reagiert, und jetzt komme ich auch noch hinterher. Aber für mich ist das nur vier Minuten lange Video zu wichtig geworden, um es zu übergehen.

Es ist eine wunderbare, herzerwärmende kleine Geschichte, noch dazu handwerklich perfekt und sehr liebevoll animiert, aber sie hat auf mich eine sehr starke und sehr schmerzhafte Wirkung. Ich meine natürlich die Stelle, als der Protagonist sein verliebtes Herz zerreißt. Er tut dies aus Angst, ja aus Panik, und weil er in diesem Augenblick keinen anderen Ausweg sieht, aber er tut es dennoch bewusst. Ihm wird nicht das Herz gebrochen, er bricht es selbst, weil die Gefühle, die er für den anderen Jungen hegt, in seiner Weltsicht nicht existieren dürfen. Ein Gefühl, das bestimmt nicht nur schwule und lesbische Menschen kennen, aber das für uns in besonderer Weise nachvollziehbar ist, weil es für die meisten von uns zur persönlichen Geschichte und für viele leider auch zur persönlichen Gegenwart gehört.

Ich habe diesen Blog Herz im Wandschrank genannt, weil der Wandschrank (Closet) im Englischen sprichwörtlich der Ort ist, an dem man seine sexuelle Identität vor anderen versteckt. Im Film kommt kein Schank vor, aber er drückt besser als dieser aus, was dieses Verstecken bedeutet und welche Konsequenzen es für das eigene Herz hat. Und der Film zeigt mir, dass ich diese Konsequenzen in meinem Leben immer noch unterschätzt habe.

Ich spüre das an den Gefühlen, die er bei mir auslöst. Das zerrissene Herz erschüttert mich zutiefst, das Happy End hat auf mich kaum eine emotionale Wirkung, der Film lässt mich mit einem Gefühl des Schmerzes und des Schreckens zurück. Ich blogge jetzt schon eineinhalb Jahre darüber, wie ich mein Herz aus dem Wandschrank befreie, aber irgendwo in meinem Inneren bin ich immer noch der Junge, der einsam und traurig unter dem Baum sitzt mit dem Bruchstück seines Herzens in der Hand, das er selbst zerstört hat.

Seelische Veränderungen dauern lange. Und manchmal sind alles Wissen und Verstehen, alle Entscheidungen und äußeren Umstände nutzlos, um wirklich die Seele zu erreichen. Da braucht es schlicht und einfach Heilung. Und ich bin froh, dass ich einen Gott habe, der Heilung zu seinem Kerngeschäft gemacht hat. Es ist nicht das erste Mal, dass Gott ein Werk der Kunst wie dieses Video benützt, um sich um meine Ängste und Blockaden zu schleichen, um Licht in meine dunklen Ecken zu bringen, um verborgene Gefühle an die Oberfläche zu bringen.

Die Stimme Gottes erreicht uns auf unterschiedlichsten Wegen. Zu mir spricht er gerade durch diesen wunderbaren Kurzfilm. Die Gefühle, die das bei mir auslöst, sind derzeit noch schmerzhaft und bitter. In ein paar Monaten vielleicht werde ich diesen Film anschauen und mich über das Happy End von Herzen freuen können. Dann wird Gott wieder mal eines seiner Heilungswunder an mir vollbracht haben.

Ehe für alle

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Nun ging es doch überraschend schnell: Am vergangenen Freitag stimmten 393 Abgeordnete (und damit ca. 63 %) des Deutschen Bundestags dafür, dass auch zwei Menschen gleichen Geschlechts eine Ehe eingehen können. Die entsprechende Gesetzesänderung muss noch ein paar Hürden nehmen: Sie muss vom Bundesrat genehmigt und vom Bundespräsidenten ausgefertigt und verkündigt werden. Und bis die Änderung in Kraft tritt, werden sicher auch noch ein paar Wochen bis Monate ins Land gehen. Vermutlich müssen erst noch passende Verwaltungsvorschriften erlassen und Formulare gedruckt werden.

Und dann wäre da noch das Bundesverfassungsgericht. Nach dessen bisherigen Entscheidungen und Äußerungen ist es sehr wahrscheinlich, aber eben nicht sicher, dass es einer einfachgesetzlichen Eheöffnung zustimmt – wenn es denn zur Klage kommt. Da niemand durch diese Gesetzesänderung benachteiligt wird, käme nur eine Normenkontroll-Klage in Frage, die nur von der Bundesregierung, einer Landesregierung oder mindestens einem Viertel der Bundestagsabgeordneten eingereicht werden kann. Die 225 Unions-Abgeordneten, die mit nein gestimmt haben, würden dafür reichen. Bei der Entscheidung, ob sie wirklich klagen, dürfte Wahlkampftaktik eine erhebliche Rolle spielen. Nach einer Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sind 82,6 % der Deutschen für die Ehe für alle.

Trotz der verbleibenden Unsicherheit: Die Entscheidung des Deutschen Bundestags ist ein Grund zu großer Freude. Dabei geht es für mich gar nicht in erster Linie um die mit der Eheschließung verbundenen Rechte. Vor allem durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind die rechtlichen Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Partnerschaft nicht mehr allzu groß. Ich möchte auch keinesfalls die Änderungen im Adoptionsrecht klein reden, nur weil sie für meine Lebenssituation sehr wahrscheinlich keine Rolle mehr spielen. Trotzdem liegt in der Entscheidung eine Bedeutung, die für mich weit über konkrete Rechtsfragen hinausgeht.

Anthony Kennedy, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, hat das vor zwei Jahren sehr treffend ausgedrückt:

Keine Verbindung ist tiefgründiger als die Ehe, denn sie verkörpert in der Liebe, Treue, Hingabe, Opferbereitschaft und Familie die höchsten Ideale. Indem zwei Menschen eine eheliche Gemeinschaft bilden, werden sie zu etwas grösserem als sie es zuvor waren.

Es geht um die Teilhabe an, wie Kennedy es schrieb, einer der ältesten Institutionen der Zivilisation. Es geht darum, ob ich nach Ansicht des Staates ein Außenseiter, ein Sonderling bin, dessen rechtliche Position durch ein ganzes Bündel an Sondergesetzen festgelegt werden muss, oder ob ich ein normaler Mensch wie alle anderen bin, für den auch die ganz normalen Gesetze und Vorschriften gelten. Die Bedeutung der Ehe für unsere Gesellschaft, für alle menschlichen Gesellschaften, ist derart hoch, dass ich in dem Ausschluss von dieser Institution nichts anderes als eine Herabwürdigung meiner Person sehen kann.

Die Entscheidung vom Freitag markiert den Anfang vom Ende dieses Ausschlusses, dieser Herabwürdigung, zumindest aus staatlicher Sicht. Es gibt noch viel zu tun, aber dieser Schritt, das Erreichen dieses großartigen Meilensteins muss zunächst mal gefeiert werden.

Leider ist mir nur teilweise nach feiern zumute. Ein großer Wermutstropfen hat sich in die Freude gemischt, und zwar in Form der Reaktion vieler meiner Brüder und Schwestern im Glauben. Die evangelische Nachrichtenagentur idea versprüht, wie üblich bei diesem Thema, als Journalismus getarntes Gift, und nicht wenige meiner christlichen Freunde plappern nach, was die homophobe Seite des Christentums ihnen als angebliche biblische Wahrheit einflüstert. Ich muss zugeben, das Gift tut seine Wirkung.

Heute bin ich mit Angst in den Gottesdienst gegangen. Angst vor möglichen Äußerungen anderer Gemeindemitglieder, die (bewusst oder unbewusst) abwertend und verletzend sind, die (bewusst oder unbewusst) Unwahrheit und Beschimpfung anderer als christliche Überzeugung darstellen. Äußerungen, gegen die ich mich hätte wehren müssen, wenn ich morgens noch in den Spiegel schauen will. Glücklicherweise sind keine derartigen Äußerungen gefallen, und es war dann doch ein sehr schöner Gottesdienst. Trotzdem: Die Angst wird nicht einfach verschwinden.

Ein Musiker hat die letzten Tage genauso erlebt und hat diese Empfindungen in einem Lied ausgedrückt. Mit seiner freundlichen Genehmigung bette ich das hier ein:

Drei Hochzeiten und ein hoffnungsloser Fall

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Niemand kann mir vorwerfen, auf zu vielen Hochzeiten getanzt zu haben. Ich kann nämlich gar nicht tanzen. Für koordinierte Körperbewegungen hatte ich nie ein übermäßiges Talent, aber die Freude am Tanzen war auch bei den meisten meiner Altersgenossen damals im typischen Tanzkurs-Alter nicht die Hauptmotivation, einen Tanzkurs zu besuchen. Aber Mädchen haben mich noch weniger interessiert.

Es war die Zeit, als ich anfing, mein Außenseiterdasein nicht nur als Fluch sondern auch als Gabe zu verstehen, als ich anfing zu begreifen, dass anders auch besser heißen kann, und dass es legitim, manchmal sogar erstrebenswert ist, gegen den Strom zu schwimmen. Den Verzicht auf einen Tanzkurs verkündete ich mit Würde und einem guten Schuss Überheblichkeit. Das mangelnde Interesse am anderen Geschlecht ließ sich erfolgreich als moralische Standhaftigkeit verkaufen, was bestimmt vielfach belächelt, von meinen Freunden aber durchaus auch respektiert wurde. Die starken Gefühle für Jungs hatte ich tief in den Giftschrank meiner Seele gesperrt.

Dieses Gefängnis hielt lange dicht. Wenige Jahre später war ich heftig verliebt und konnte immer noch nicht begreifen, welche Gefühle es waren, die mich da überfielen, denn dass ich mich als Mann in einen Mann verliebe, kann ja nicht sein. Als dieser Mann später eine Frau heiratete, waren diese Gefühle schon wieder verflogen, aber die Schemas in meinem Kopf waren noch sehr verfestigt: Als Mann heiratet man eine Frau – alles andere ist unchristlich und unmoralisch. Die Hochzeit war sehr leger. Schon zum Kaffee trug niemand mehr eine Krawatte, die gemeinsamen Hochzeitsfotos entstanden an einem Badesee in unmittelbarer Nähe des FKK-Bereichs. Die „So etwas macht man nicht“-Stimme in mir erlitt eine bedeutende Niederlage.

Etwa zu dieser Zeit brach das Gefängnis in meiner Seele so langsam auf, und was ihr dadurch an verdrängten und verleugneten Gefühlen entstieg, brachte mich in große Bedrängnis: Wie sollte ich als schwuler Christ leben? Eine der Alternativen war damals, hetero zu werden. Es gab Hilfsangebote mit dieser Perspektive und Beispiele angeblich erfolgreicher „Heilungen“. Es gab aber auch das tief verwurzelte Bewusstsein in mir, dass so etwas nicht möglich ist. Irgendwann gab ich dem geistlichen Druck nach machte das Unmögliche zu meiner Perspektive: „Therapie“ und anschließend eine hoffentlich glückliche Ehe mit einer Frau.

Damals fühlte sich diese Perspektive wie eine Befreiung an. Ich hatte wieder Hoffnung, eine vergebliche Hoffnung zwar, aber immer noch viel besser als die Hoffnungslosigkeit, die mich davor gequält hatte. In diese Zeit fällt die Hochzeit eines Freundes, in den ich auch zuvor verliebt war. Was eine schlimme Erfahrung hätte werden können, wurde auch für mich zu einem wunderschönen Fest, weil meine Hoffnung auf „Heilung“ sie zu einem Vorgeschmack auf meine eigene Hochzeit machte.

Die ganzen „Therapien“ sind natürlich, was die Veränderung der sexuellen Orientierung betrifft, völlig wirkungslos, die Heilungsversprechen beruhen auf Lüge und Selbstbetrug. Hat Gott mir damals eine Lüge erzählt, um mir Hoffnung zu geben? Vielleicht war ich einfach damals noch viel zu gefangen in Vorurteilen und zerstörerischer Theologie, um die Wahrheit anzunehmen. Vielleicht fand Gott es besser, dass ich mit einer Lüge weiterlebe, statt an der Wahrheit zu zerbrechen. Jedenfalls wusste Gott es zu verhindern, dass ich zu tief in dieses Lügengebilde einsteige, dass ich mich zu sehr auf diese zerstörerischen Therapieangebote einlasse. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Viele Jahre sind seither vergangen. Gestern durfte ich einer wunderschönen kirchlichen Trauung beiwohnen. Der Gottesdienst war sehr persönlich, fast intim gestaltet, was ihn aber nicht weniger festlich machte. Die Brautleute verlasen selbst geschriebene Treueversprechen, die von tiefer Liebe zueinander zeugten. Und natürlich bewegte mich die Frage: Stehe ich auch irgendwann mal da vorne, an der Seite eines Mannes, für den ich, und der für mich die gleichen Gefühle empfindet, wie sie das Brautpaar so wunderschön ausdrückten?

Das Brautpaar gestern war jung. Ich bin es nicht mehr. Stattdessen habe ich schon ein halbes Leben voller irregeleiteter und vergeblicher Hoffnungen hinter mir, gerade was das Thema Beziehungen und Hochzeit und Ehe betrifft. Eine fiese, kleine Stimme in mir erklärt mich zum hoffnungslosen Fall. Aber die Hoffnung, selbst einmal als glücklicher Bräutigam am Altar zu stehen, ist noch da, ist vielleicht lebendiger denn je. Ich werde nicht auf diese fiese, kleine Stimme in mir hören. Ich werde an dieser Hoffnung festhalten.

Was ich noch hätte sagen sollen …

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Heute an Pfingsten feiern wir die die Ausgießung des Heiligen Geistes an alle Gläubigen. Zu Studentenzeiten sagten wir immer, Gott wolle den Heiligen Geist aus Gießen, denn in dieser Stadt lag die Deutschland-Zentrale unserer christlichen Studentenvereinigung. Andererseits habe ich in Erlangen studiert, und es heißt ja auch: Suchet das Himmelreich zu Erlangen.

Vom Heiligen Geist kann man eigentlich nicht genug haben, auch Paulus ermahnt uns, dass wir uns immer neu von ihm erfüllen lassen. Vielleicht haben wir manchmal aber schon genug und merken es gar nicht. Im Kapitel 10 des Matthäus-Evangeliums sendet Jesus seine Jünger zu einem Dienst auf Probe aus, heute würden wir vielleicht von einem Kurzzeit-Missionseinsatz sprechen. Man muss vorsichtig mit diesem Text umgehen: Manche Anweisungen sind der Besonderheit der Situation geschuldet und stellen keine allgemein gültigen Regeln für Missionare dar. Aber ich bin mir sicher, dass ein Abschnitt in seiner Bedeutung weit über die damalige Situation hinaus geht:

Wenn man euch vor Gericht stellt, macht euch keine Sorgen, wie und was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde eingegeben, was ihr sagen sollt. Nicht ihr werdet reden, sondern der Geist des Vaters wird durch euch reden.

Ich bin glücklicherweise noch nie wegen meines Glaubens vor Gericht gestellt worden. Für meinen Glauben und meine Überzeugungen rechtfertigen musste ich mich schon oft. Durfte würde ich in manchen Fällen wohl sagen, denn nicht selten, gerade gegenüber Nichtchristen, waren das sehr angenehme Gespräche. In richtigen Rechtfertigungsdruck haben mich – gerade in den letzten Jahren – eher meine lieben Mitchristen gebracht, aber das ist ein ganz anderes Thema.

Eine Erfahrung habe ich aber bisher in all diesen Gesprächen gemacht: Hinterher fällt mir ein, was ich noch alles Schlaues oder Wichtiges hätte sagen können, wie ich meine Argumente besser hätte untermauern können oder meinen Glauben überzeugender hätte rüberbringen müssen. Je nachdem, wie intensiv oder wie wichtig das Gespräch war, trage ich diese Gedanken noch Tage, manchmal sogar Wochen mit mir herum.

Ich will nicht sagen, dass es schlecht ist, sich auf derartige Gespräche vorzubereiten. Petrus ermahnt die Empfänger seines ersten Briefes, sie sollen stets bereit sein, jedem Rede und Antwort zu stehen, der sie nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt. Aber mangelnde Vorbereitung ist jetzt nicht wirklich mein Problem: Ich bilde mir ein, mir über viele Fragen schon gründlich Gedanken gemacht zu haben. Andererseits glaube ich ganz entschieden nicht, dass es gut ist, auf jede mögliche Frage eine auswendig gelernte Antwort zu haben.

Dazu kommt, dass gerade diese Grübelei hinterher, was ich hätte besser machen können, besonders unproduktiv und unsinnig ist. Das jeweilige Gespräch ist vorbei und kommt in dieser Form bestimmt nicht wieder. Aber ich glaube, das Problem geht noch tiefer. Diese Form der Selbstkritik ist (zumindest bei mir) auch ein Symptom für mangelndes Vertrauen in die Kraft des Heiligen Geistes.

Heute wird in vielen Gemeinden über die Pfingstpredigt des Petrus geredet. Er nutzte damals die Aufmerksamkeit und die Situation. Er redete spontan, aber brillant, und 3.000 Menschen fanden zu Jesus. Wenn Jesus verheißt, dass der Geist des Vaters durch uns redet, stelle ich mir genau das vor. Leider habe ich dergleichen in meinem Leben höchst selten und auch dann nur in Ansätzen erlebt. Spricht sonst der Heilige Geist nicht durch mich?

Zunächst einmal war die Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten ein welt- und heilsgeschichtlich einmaliges Ereignis. Dass Gott an so einem besonderen Tag besonders große Wunder tut, sollte nicht verwundern. Dass der Alltag weniger glanzvoll verläuft als der Festtag, ist kein Fehler des Alltags.

Die Verheißung Jesu in Matthäus 10 lautet auch nicht, dass der Geist des Vaters durch mich spricht, und sich alle bekehren werden. Sie lautet nur, dass der Geist des Vaters durch mich spricht. Da ist nicht die Rede von besonderen Wirkungen, dass meine Worte alle überzeugen. Es ist nicht verheißen, dass diese Worte, die der Geist durch mich spricht, irgend eine spezielle Auswirkung haben, ja nicht mal, dass sie überhaupt eine Auswirkung haben. Es ist auch nicht verheißen, dass ich mit dem, was der Heilige Geist durch mich spricht, zufrieden bin, oder dass ich mich dabei gut fühle. Aber in Jesaja, Kapitel 55 spricht Gott:

So ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe.

Und an dieser Stelle muss ich mir einfach eingestehen, dass ich in den wenigsten Fällen auch nur ahne, was Gott mit einem Gespräch bewirken will, und wie das die Worte, die mutmaßlich der Heilige Geist durch mich redet, erreichen sollen. Wenn ich nun hinterher nach besseren Argumenten, nach besseren Worten suche, dann heißt das doch, dass den Worten nicht vertraue, die der Geist des Vaters durch mich bereits gesprochen hat, dass ich dem Vater selbst nicht vertraue, mit genau diesen Worten genau die Wirkung zu erzielen, die er sich für genau dieses Gespräch vorstellt.

Es geht nicht darum, dass ich möglichst brillant und möglichst überzeugend rede. Es geht darum, dass Gott durch mich redet, und dass er auch bestimmt, welche Wirkung dieses Reden haben soll. Ich möchte hier mehr Vertrauen lernen, und dazu gehört auch, dass ich diese „innere Manöverkritik“ nach jedem derartigen Gespräch bei mir abschaffe. Das wird mir nicht leicht fallen, weil sich eben alte Gewohnheiten nicht so einfach abstellen lassen. Aber ich glaube, dass es mein Vertrauen in den stärkt, der jedes Vertrauen verdient.

Ermutigung

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Es ist vielleicht unvermeidlich, dass ich als schwuler Christ gelegentlich in eine Verteidigungshaltung gerate. In letzter Zeit habe ich mich jedoch viel zu oft in dieser Haltung wiedergefunden, häufig unnötigerweise, manchmal sogar ohne jeden Anlass. Gründe dafür gibt es viele, aber ich weiß längst: Es tut mir nicht gut.

Auch die Zeichen, die Gott mir schickt, weisen in eine andere Richtung. In den letzten Wochen bin ich gleich auf mehrere Mut machende und befreiende Bibelstellen gestoßen, die mich sehr berührt haben. „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, schreibt Paulus. Trotzdem halte ich oft an der Enge meiner Verteidigungshaltung fest, weil sie sich sicher anfühlt, weil sie mir das (sehr wahrscheinlich trügerische) Gefühl gibt, alles unter Kontrolle zu haben. Und meine Seele verwechselt die Weite, in die Gott mich führen will, mit Halt- und Schutzlosigkeit.

Ich möchte dem nicht nachgeben. Ich möchte nicht an etwas festhalten, was doch keinen Halt gibt und mir nur schadet, ich möchte vielmehr die Ermutigung festhalten, die Gott mir bereits gegeben hat. Deshalb gibt es hier in den nächsten Wochen eine kleine Serie über Bibelstellen, die mir den Weg in diese Freiheit zeigen und mir Mut machen.

An eine dieser Bibelstellen hat mich Gott erinnert, als ich vor kurzem eine schwierige E-Mail schreiben musste. Sie steht in Jesaja 43, Vers 18 und 19:

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde.

Eine Bibelstelle, die für mich in besonders eindrücklicher Weise die Situation der schwulen, lesbischen, bisexuellen, transgeschlechtlichen und sonst irgendwie queeren Christen beschreibt. Nach vielen Jahrhunderten der Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung erkennen mehr und mehr Christen, Gemeinden und Verbände, dass Gott neue Wege geht mit seinen nicht-cis-hetero-Nachfolgern, und gehen diese Wege mit. Sie erleben, dass Gott hier neues Leben aufwachsen lässt, und freuen sich mit uns.

Schade nur, dass ausgerechnet eine der lebensfeindlichsten Organisationen in diesem Bereich sich den Namen Wuestenstrom gegeben hat. Sie und viele andere erkennen noch nicht, welches Wachstum Gott hier wirklich schenkt, manche bekämpfen es sogar. Trotzdem gibt es mehr als genug Gründe, dankbar zu sein für das, was Gott schon getan hat, und gespannt zu sein auf das, was er noch tun wird.

Das Bibelwort hat auch eine persönliche Seite für mich. Die Vergangenheit liegt hinter mir und wird auch nicht zurück kommen. Es wird mir nicht helfen, über das, was war oder was hätte gewesen sein können, nachzugrübeln. Gott erinnert mich mit seinem Wort daran, dass es viel besser ist, nach dem zu suchen, dass er noch geben will, und nicht nach dem, das ich vielleicht verpasst habe. Die Veränderungen in meinem Leben sind von Gott geschenkt und brauchen nicht ängstlich von mir verteidigt zu werden. Statt dessen sollte ich nach dem Leben Ausschau halten, das Gott jetzt bei mir wachsen lässt, nach den Wegen, die er jetzt ebnet und nach dem Wasser, mit dem er jetzt meinen Durst löschen will.

Kreuz und Selbstwert

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Letzte Woche habe ich das Thema Vergebung angesprochen. Ich bin nicht sehr gut darin. Das heißt nicht, dass es mir nicht wichtig ist, anderen zu vergeben. Jesus betont es ja mehrfach und sogar im Vaterunser ist es enthalten: Wenn ich auf einen gnädigen Gott hoffen will, muss ich dieselbe Gnade auch anderen entgegenbringen. Das versuche ich täglich, aber ich erlebe auch täglich, dass es mir viel schwerer fällt, anderen zu vergeben, als es mir recht sein kann, und dass ich oft viel zu nachtragend bin.

Das gilt gerade auch in Fällen, in denen jemand gar nicht weiß, dass er oder sie etwas Falsches getan hat. Ich denke, wer mich um Entschuldigung bittet, bekommt meist eine ehrlich freundliche Reaktion. Aber wenn jemand sein Unrecht nicht erkennt oder nicht einsieht, werde ich fuchsig. Das ist vor allem deshalb besonders schlecht, weil ich nicht nur nicht vergebe, sondern auch noch über andere urteile – und dabei mit meinem Urteil nicht selten auch noch falsch liege. Das mag eine sehr menschliche Reaktion auf gefühltes, erlittenes Unrecht sein, aber nach über 30 Jahren als Christ sollte ich vielleicht weiter sein. Sollte. Wie gut, dass Gottes Liebe nicht davon abhängig ist.

Jesus ist für mich gestorben, als ich noch Sünder war. Und Jesus ist auch für mein derzeitiges Ich gestorben, dem Vergebung immer noch zu schwer fällt. Ich bilde mir nicht ein, Jesu Tod am Kreuz und seine Auswirkungen auf mich vollständig zu verstehen. Manches daran wird lebenslang für mich geheimnisvoll bleiben, und das ist auch gut so. Aber ich habe in letzter Zeit einen Aspekt entdeckt, der mir gerade beim Thema Vergebung weiterhilft.

Aber zunächst habe ich erkannt, wieder einmal erkannt, dass nicht jede biblische Wahrheit in jeder Situation hilfreich ist. Mein Verständnis von Vergebung ist von jeher von zwei Wahrheiten geprägt. Als erstes ist die Schuld des Anderen meist viel kleiner, als ich es annehme. Sehr wenig von dem, was bei mir als böse ankommt, ist das Ergebnis böser Absicht. Manchmal ist Dummheit, Unachtsamkeit oder Nachlässigkeit die wahre Ursache, manchmal auch einfach nur andere Werte oder kulturelle Unterschiede. Die wenigsten Treffer auf meiner Seele sind gezielt. Es ist daher sicher nicht verkehrt, erst einmal von der besten Absicht auszugehen und möglichst gut von anderen Menschen zu denken.

Die zweite Wahrheit ergibt sich schon fast daraus und wurde schon eingangs erwähnt: Ich bin keinesfalls besser. Wie kann ich bei der mutmaßlich geringen Schuld des anderen nachtragend sein, wenn ich das Maß meiner eigenen Schuld gegenüber anderen auch nur halbwegs erkannt habe?

Beide Wahrheiten sind nicht nur offensichtlich wahr, sondern auch ganz offensichtlich sehr wichtige Aspekte des Themas Schuld und Vergebung. Es sind wichtige Erkenntnisse im Umgang mit anderen Menschen und mit mir selbst, sie stutzen mich auf ein realistisches Maß zurück und wehren Rechthaberei und Hochmut ab. Sie haben aber auch ihre Grenzen: Sie ermöglichen mir Vergebung nur auf Kosten des eigenen Ichs. Wahrheit Nummer eins verharmlost die Schuld an mir und Wahrheit Nummer zwei macht mir zusätzlich ein schlechtes Gewissen.

Was Vergebung für mich in der Praxis oft so schwer macht, sind meine verletzten Gefühle. Und Vergebung auf Grundlage dieser beiden Wahrheiten hilft mir gerade in diesem Punkt überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Sie erklärt die Unterdrückung dieser schlechten Gefühle zu meiner eigenen Aufgabe, meiner Verpflichtung, die ich allein aus menschlicher Kraft zu bewältigen habe. Das geht natürlich nur so lange gut, wie meine menschliche Kraft dafür ausreicht, und das ist bei weitem nicht lange genug.

Und es geht am Kern der Vergebung vorbei. Gottes Strategie ist nicht Verharmlosung, nicht Relativierung und erst recht nicht, uns ein möglichst schlechtes Gewissen zu machen. Gottes Strategie ist es, das Thema ein für allemal zu erledigen. Dafür starb Jesus am Kreuz. Dafür musste Jesus am Kreuz sterben. Das ist das absolute Gegenteil von Verharmlosung.

Nie wurde die Schuld der Menschen so offensichtlich so ernst genommen wie vor knapp 2000 Jahren auf Golgatha. Nie wurde so deutlich, wie ernst Gott dieses Thema nimmt, wie wenig er zu das ist ja nicht so schlimm oder das war ja keine böse Absicht oder das kann ja jedem mal passieren neigt. Jede einzelne Schuld ist in Gottes Augen so schlimm, dass sie nur gesühnt werden konnte, indem ein Unschuldiger dafür stirbt. Wie schon erwähnt, ich verstehe das nicht vollständig, aber trotz allem ist es offensichtlich so.

Ich habe schon lange begriffen, dass dies meine eigene Schuld betrifft, dass Jesus für mich sterben musste, dass es für mich sonst keine Vergebung, keine Rettung gegeben hätte. Erst allmählich begreife ich, was es heißt, dass Jesus auch für andere gestorben ist, dass er gerade auch für die gestorben ist, die an mir schuldig wurden. Er zeigt mir damit, wie bitter ernst er jede einzelne Schuld an mir, jede Verletzung, jeden Stich in meiner Seele nimmt. Er macht mir mehr als deutlich, dass es für ihn unter keinen Umständen akzeptabel ist, dass mir unrecht geschieht. Das Jesus für mich gestorben ist, zeigt seine unbegreiflich große Liebe für mich. Dass Jesus für die Menschen gestorben ist, die an mir schuldig geworden sind, zeigt diese Liebe nicht minder.

Das heißt auch, dass Jesus meine verletzten Gefühle sehr ernst nimmt, vielleicht ernster als ich selbst. Ich muss sie nicht relativieren oder unterdrücken. Ich kann sie in die Zuständigkeit dessen abgeben, für den sie mindestens ebenso wichtig sind wie für mich selbst. Für Gerechtigkeit ist letztlich allein Gott zuständig. Als Mensch bin ich höchstens sein Beauftragter in der Umsetzung, in den allermeisten Fällen nicht einmal das. Vergebung heißt nicht, dass ich Schuld leugne. Es heißt, dass ich die Zuständigkeit für die Sühne abgebe. Dazu brauche ich noch viel Übung, und ich werde lebenslang ein Lernender bleiben. Aber ich verlasse mich dabei nicht mehr auf meine begrenzte Kraft, Gefühle zu unterdrücken. Und dabei hilft mir, dass ich mich als Opfer ebenso von Gott ernst genommen fühle wie als Täter.