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Monatsarchiv: Oktober 2016

Reformations-Halloween

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Im Jahr 1517 soll ein gewisser Hans von Hake bei Johann Tetzel einen Ablassbrief „für noch zu begehende Sünden“ gekauft haben. Kurz darauf überfiel und beraubte er Tetzel unter Vorzeigung dieses Ablassbriefes. Historiker bezweifeln, dass dies so stattgefunden hat, aber unabhängig von ihrem historischen Gehalt zeigt die Geschichte wunderbar die Absurdität des Ablasshandels auf.

Tetzel ist längst tot und glücklicherweise auch die von ihm vertretene Form des Ablasses gegen Geld. Ablässe gibt es aber immer noch. Die katholische Kirche definiert wie folgt (Stand 1983):

Ablaß ist der Nachlaß zeitlicher Strafe vor Gott für Sünden, deren Schuld schon getilgt ist; ihn erlangt der entsprechend disponierte Gläubige unter bestimmten festgelegten Voraussetzungen durch die Hilfe der Kirche, die im Dienst an der Erlösung den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen autoritativ verwaltet und zuwendet.

Als aufrechter Protestant des 21. Jahrhunderts muss ich sagen: Mir gruselt. Ich möchte hier nicht auf die theologischen Details eingehen, aber ich muss sagen: Mehr noch als die Ablass-Praxis des 16. Jahrhunderts jagt mir die theologische Begründung kalte Schauer über den Rücken. Das passt gut zur Jahreszeit, denn morgen ist der ideale Tag für Gruselgeschichten aller Art, auch über den Ablasshandel.

Statt Hans von Hakes Überfall, der wohl eher dem Reich der Legende zuzuordnen ist, gedenken wir morgen am Reformationstag Martin Luthers historisch verbürgten 95 Thesen. Statt einer äußerst gelungenen, aber theologisch vermutlich fragwürdigen Satire-Aktion feiern wir ein theologisch fundiertes, aber ziemlich langatmiges Thesenpapier. Die evangelische Christenheit hat nicht viel Glück mit ihren spezifischen Feiertagen: Der Reformationstag hat einen trockenen theologischen Disput zum Thema, beim Buß- und Bettag klingt schon der Name nach schlechter Laune – zumindest seit der Rechtschreibreform, die es unmöglich gemacht hat, im Bet-Tag einen Bett-Tag zu lesen.

Entsprechend hoffnungslos erscheint es mir, sich der Überlagerung des Reformationstags durch Halloween entgegenzustellen. Denn gegenüber so ziemlich jeder Reformationstags-Feier hat so ziemlich jede Halloween-Feier einen entscheidenden Vorteil: Sie macht Spaß. Wenn ich sehe, mit welcher Kreativität, welchem Humor und welcher Liebe zum Detail sich die angelsächsische Welt diesem Feiertag widmet, werde ich ein wenig neidisch. Mit dem deutschen Kulturgut Fasching stehe ich seit jeher auf Kriegsfuß. Der amerikanische Halloween-Kult liegt mir da wesentlich näher. Ich stelle mir einen Abend in Gesellschaft von Horror-Clowns wesentlich lustiger vor als einen Abend in Gesellschaft von Faschingsprinzen und Funkenmariechen.

Im Gegensatz zu Vatertag und Himmelfahrt wurde ja Halloween nicht mit Absicht auf einen christlichen Feiertag gelegt. Die Termine haben zwar einen gemeinsamen Grund (der Tag vor Allerheiligen), entstanden aber völlig unabhängig voneinander. Die Protestanten haben bekanntlich ihren Namen davon, dass sie 1529 gegen die Ächtung Martin Luthers protestierten. Heute protestieren sie vielfach dagegen, dass fröhliche Halloween-Feiern den theologisch-trockenen Reformationstag verdrängen. Ein verlorener Kampf, mit dem sie in erster Linie erreichen, dass die Anhänger Jesu, der von seinen Gegnern als Fresser und Weinsäufer bezeichnet wurde, heute vor allem als Spaßbremsen bekannt sind.

Statt den Terminkonflikt gelassen hinzunehmen, wird er zum Kultur- oder gar Glaubenskampf überhöht. Wer sich und seine Sache zu ernst und zu wichtig nimmt, gleitet allzu leicht ins Absurde ab und macht sich am Ende nur lächerlich – so wie Tetzel durch durch Hans von Hake lächerlich gemacht wurde. Halloween-Feiern haben ebenso ihre Berechtigung wie Reformationstags-Gottesdienste. Dabei sind beide Feste derart unterschiedlich, dass sie unmöglich in Konkurrenz zueinander stehen könnten, lägen sie nicht dummerweise auf demselben Tag. Was beide aber letztendlich gemeinsam haben, ist das wohlige Gruseln in der Erinnerung an längst überwundenen Aberglauben.

Halloween bietet neben traditionellen Motiven auch die Gelegenheit für ungewöhnliche Kostüme. Von mehreren Anbietern gibt es passende Perücken, um sich als Donald Trump zu verkleiden, eine wahrhaft gruselige Figur. Nächstes Jahr wird zum Reformations-Jubiläum sicher auch der eine oder andere Luther auftauchen. Ich hätte da eine viel bessere Idee: Johann Tetzel inklusive Ablassbriefe, Geldkasten und Tonsur. Zwar werden nur die wenigsten verstehen, was daran gruselig sein soll, aber beim Rest lässt sich mit dieser Figur, wenn man sie gut spielt, nebenbei sehr schön Geld für einen guten Zweck sammeln.

Kreuz und Selbstwert

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Letzte Woche habe ich das Thema Vergebung angesprochen. Ich bin nicht sehr gut darin. Das heißt nicht, dass es mir nicht wichtig ist, anderen zu vergeben. Jesus betont es ja mehrfach und sogar im Vaterunser ist es enthalten: Wenn ich auf einen gnädigen Gott hoffen will, muss ich dieselbe Gnade auch anderen entgegenbringen. Das versuche ich täglich, aber ich erlebe auch täglich, dass es mir viel schwerer fällt, anderen zu vergeben, als es mir recht sein kann, und dass ich oft viel zu nachtragend bin.

Das gilt gerade auch in Fällen, in denen jemand gar nicht weiß, dass er oder sie etwas Falsches getan hat. Ich denke, wer mich um Entschuldigung bittet, bekommt meist eine ehrlich freundliche Reaktion. Aber wenn jemand sein Unrecht nicht erkennt oder nicht einsieht, werde ich fuchsig. Das ist vor allem deshalb besonders schlecht, weil ich nicht nur nicht vergebe, sondern auch noch über andere urteile – und dabei mit meinem Urteil nicht selten auch noch falsch liege. Das mag eine sehr menschliche Reaktion auf gefühltes, erlittenes Unrecht sein, aber nach über 30 Jahren als Christ sollte ich vielleicht weiter sein. Sollte. Wie gut, dass Gottes Liebe nicht davon abhängig ist.

Jesus ist für mich gestorben, als ich noch Sünder war. Und Jesus ist auch für mein derzeitiges Ich gestorben, dem Vergebung immer noch zu schwer fällt. Ich bilde mir nicht ein, Jesu Tod am Kreuz und seine Auswirkungen auf mich vollständig zu verstehen. Manches daran wird lebenslang für mich geheimnisvoll bleiben, und das ist auch gut so. Aber ich habe in letzter Zeit einen Aspekt entdeckt, der mir gerade beim Thema Vergebung weiterhilft.

Aber zunächst habe ich erkannt, wieder einmal erkannt, dass nicht jede biblische Wahrheit in jeder Situation hilfreich ist. Mein Verständnis von Vergebung ist von jeher von zwei Wahrheiten geprägt. Als erstes ist die Schuld des Anderen meist viel kleiner, als ich es annehme. Sehr wenig von dem, was bei mir als böse ankommt, ist das Ergebnis böser Absicht. Manchmal ist Dummheit, Unachtsamkeit oder Nachlässigkeit die wahre Ursache, manchmal auch einfach nur andere Werte oder kulturelle Unterschiede. Die wenigsten Treffer auf meiner Seele sind gezielt. Es ist daher sicher nicht verkehrt, erst einmal von der besten Absicht auszugehen und möglichst gut von anderen Menschen zu denken.

Die zweite Wahrheit ergibt sich schon fast daraus und wurde schon eingangs erwähnt: Ich bin keinesfalls besser. Wie kann ich bei der mutmaßlich geringen Schuld des anderen nachtragend sein, wenn ich das Maß meiner eigenen Schuld gegenüber anderen auch nur halbwegs erkannt habe?

Beide Wahrheiten sind nicht nur offensichtlich wahr, sondern auch ganz offensichtlich sehr wichtige Aspekte des Themas Schuld und Vergebung. Es sind wichtige Erkenntnisse im Umgang mit anderen Menschen und mit mir selbst, sie stutzen mich auf ein realistisches Maß zurück und wehren Rechthaberei und Hochmut ab. Sie haben aber auch ihre Grenzen: Sie ermöglichen mir Vergebung nur auf Kosten des eigenen Ichs. Wahrheit Nummer eins verharmlost die Schuld an mir und Wahrheit Nummer zwei macht mir zusätzlich ein schlechtes Gewissen.

Was Vergebung für mich in der Praxis oft so schwer macht, sind meine verletzten Gefühle. Und Vergebung auf Grundlage dieser beiden Wahrheiten hilft mir gerade in diesem Punkt überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Sie erklärt die Unterdrückung dieser schlechten Gefühle zu meiner eigenen Aufgabe, meiner Verpflichtung, die ich allein aus menschlicher Kraft zu bewältigen habe. Das geht natürlich nur so lange gut, wie meine menschliche Kraft dafür ausreicht, und das ist bei weitem nicht lange genug.

Und es geht am Kern der Vergebung vorbei. Gottes Strategie ist nicht Verharmlosung, nicht Relativierung und erst recht nicht, uns ein möglichst schlechtes Gewissen zu machen. Gottes Strategie ist es, das Thema ein für allemal zu erledigen. Dafür starb Jesus am Kreuz. Dafür musste Jesus am Kreuz sterben. Das ist das absolute Gegenteil von Verharmlosung.

Nie wurde die Schuld der Menschen so offensichtlich so ernst genommen wie vor knapp 2000 Jahren auf Golgatha. Nie wurde so deutlich, wie ernst Gott dieses Thema nimmt, wie wenig er zu das ist ja nicht so schlimm oder das war ja keine böse Absicht oder das kann ja jedem mal passieren neigt. Jede einzelne Schuld ist in Gottes Augen so schlimm, dass sie nur gesühnt werden konnte, indem ein Unschuldiger dafür stirbt. Wie schon erwähnt, ich verstehe das nicht vollständig, aber trotz allem ist es offensichtlich so.

Ich habe schon lange begriffen, dass dies meine eigene Schuld betrifft, dass Jesus für mich sterben musste, dass es für mich sonst keine Vergebung, keine Rettung gegeben hätte. Erst allmählich begreife ich, was es heißt, dass Jesus auch für andere gestorben ist, dass er gerade auch für die gestorben ist, die an mir schuldig wurden. Er zeigt mir damit, wie bitter ernst er jede einzelne Schuld an mir, jede Verletzung, jeden Stich in meiner Seele nimmt. Er macht mir mehr als deutlich, dass es für ihn unter keinen Umständen akzeptabel ist, dass mir unrecht geschieht. Das Jesus für mich gestorben ist, zeigt seine unbegreiflich große Liebe für mich. Dass Jesus für die Menschen gestorben ist, die an mir schuldig geworden sind, zeigt diese Liebe nicht minder.

Das heißt auch, dass Jesus meine verletzten Gefühle sehr ernst nimmt, vielleicht ernster als ich selbst. Ich muss sie nicht relativieren oder unterdrücken. Ich kann sie in die Zuständigkeit dessen abgeben, für den sie mindestens ebenso wichtig sind wie für mich selbst. Für Gerechtigkeit ist letztlich allein Gott zuständig. Als Mensch bin ich höchstens sein Beauftragter in der Umsetzung, in den allermeisten Fällen nicht einmal das. Vergebung heißt nicht, dass ich Schuld leugne. Es heißt, dass ich die Zuständigkeit für die Sühne abgebe. Dazu brauche ich noch viel Übung, und ich werde lebenslang ein Lernender bleiben. Aber ich verlasse mich dabei nicht mehr auf meine begrenzte Kraft, Gefühle zu unterdrücken. Und dabei hilft mir, dass ich mich als Opfer ebenso von Gott ernst genommen fühle wie als Täter.

Homosexualität ist …

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Vor ein paar Wochen schrieb mir ein sehr guter Freund: „Ich finde einfach mehr Argumente die nicht für eine Vereinbarkeit von Homosexualität und Bibel sprechen (…).“ Es sind Sätze wie diese, die einem schwulen Christen immer wieder begegnen: „Homosexualität ist nicht mit der Bibel vereinbar.“ Oder in der schärferen Form: „Homosexualität ist Sünde.“ Ich möchte heute nicht auf die biblische Seite eingehen, die in diesen Sätzen mitschwingt. So weit komme ich gar nicht, denn wenn ich solche „Antworten“ sehe, kann ich nur mit Loriot bzw. Evelyn Hamann ausrufen: „Da regt mich ja die Frage schon auf!“

Homosexualität ist ein Oberbegriff für eine Gruppe sehr unterschiedlicher Phänomene. Ohne zu erklären, was hier genauer gemeint ist, entbehren solche Sätze erst mal völlig jeder Aussagekraft. Meint der Schreiber die sexuelle Orientierung, will er stattdessen etwas über sexuelle Handlungen aussagen oder über erotische oder romantische Gefühle? Redet er von der Beziehung zweier Menschen, und wenn ja, von welcher Art von Beziehung? Oder hat er homosexuelles Verhalten bei Tieren im Blick, dafür gibt es bekanntlich ja auch jede Menge Beispiele. Je nachdem, welche Teilbedeutung man einsetzt, kommt jeweils eine völlig andere Aussage heraus. Die wahre Bedeutung bleibt rätselhaft.

Doch eine Aussage ist in solchen Sätzen tatsächlich immer vorhanden, nämlich die über die Fachkompetenz des Äußernden: Sie ist offensichtlich nicht in annähernd ausreichendem Maße vorhanden. Es ist doch selbstverständlich, dass bei jeder Form moralischer Wertung deutlich zwischen der Persönlichkeit, den Gefühlen und den Handlungen eines Menschen unterschieden werden muss. Wer den Begriff Homosexualität, der ja alle drei Bereiche umfasst, als Ganzes einer Wertung zu unterziehen, macht deutlich, dass ihm zu einem Werturteil in dieser Frage jegliche Grundlage fehlt.

Trotzdem hört und liest man diese Sätze immer wieder. Was macht man nun mit den Menschen, die so einen offensichtlichen Unsinn von sich geben? Ich glaube, ignorieren wäre die beste Lösung. In den meisten Fällen können diese Menschen einfach nicht erkennen, wie wenig sie wirklich über Homosexualität wissen. Wenn man noch bedenkt, wie viele Klischees, Gerüchten und leider auch Lügen auch von christlichen Führungspersönlichkeiten zu diesem Thema quasi als biblische Wahrheit verbreitet werden, entsteht hier leicht, gerade bei Heteros, ein Gefühl scheinbarer Kompetenz, das dann zu den eingangs erwähnten, sinnfreien Aussagen führt.

Zum Glück lassen eben diese Aussagen leicht erkennen, dass der Äußernde nicht wirklich weiß, wovon er spricht, so dass man getrost die Ohren auf Durchzug schalten kann. Aus dem Mund, der einen derartigen Unsinn äußert, ist zum gleichen Thema nicht mit Weisheit zu rechnen. Und mit den Ohren auf Durchzug bleibt der Raum dazwischen schön frei für die netten, liebevollen und oft sehr weisen Sachen, die diese Menschen vielleicht zu anderen Themen zu sagen haben.

Wenn es denn so einfach wäre. Mir fällt dieses Ignorieren regelmäßig sehr schwer, gerade wenn solche Aussagen von Menschen kommen, die ich ganz besonders schätze, denn im Grunde sind diese Aussagen zutiefst verletzend. Wenn der Begriff Homosexualität ohne Zusätze verwendet ist, ist heute normalerweise die sexuelle Orientierung gemeint, die Teil der sexuellen Identität und damit Teil der Persönlichkeit ist. Und deshalb: Wenn jemand „Homosexualität ist nicht mit der Bibel vereinbar.“ sagt, höre ich zwangsläufig: „Deine Persönlichkeit ist nicht mit der Bibel vereinbar.“ Oder kurz: „Du bist nicht mit der Bibel vereinbar.“

Solche Aussagen sind abwertend und entwürdigend, sie stellen meinen Wert als Person infrage, und ich bringe es einfach nicht fertig, sie zu ignorieren, gerade wenn sie von sehr guten Freunden kommen. Auch wenn ich weiß, dass diese Abwertung meiner Person nur fahrlässig aus Inkompetenz geschieht, werden da bei mir leider sehr unchristliche Gefühle geweckt. Ich bin regelmäßig nicht nur verletzt, sondern auch wütend und stinksauer. Um es recht drastisch auszudrücken: Meine geschundene Seele verlangt nach Vergeltung.

Wie gesagt, das sind sehr unchristliche Gefühle. Die richtige Antwort wäre Vergebung. Sie wäre nicht nur „Christenpflicht“, sie wäre auch der Situation angemessen und würde nicht zuletzt auch mir selbst gut tun. Sie hätte mir manche durch Wut und Ärger schlaflose Nacht erspart. Dass es mir trotzdem immer noch in solchen Situationen so schwer fällt zu vergeben, zeigt vor allem, wie viel ich hier noch zu lernen habe.

Ich möchte solche Sätze wie „Homosexualität ist nicht mit der Bibel vereinbar.“ nicht verharmlosen. Wer andere Menschen verletzt, weil er Werturteile zu Themen abgibt, von denen er offensichtlich keine Ahnung hat, der sündigt. Meine verletzten Gefühle allerdings haben ihre Ursache nicht in diesen Sünden, sondern in meinem Umgang damit. Wie Eleanor Roosevelt einst sagte: „Niemand kann dir, ohne deine Zustimmung, das Gefühl geben, minderwertig zu sein.“

Gott, der Herr

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Dies ist der letzte Eintrag meiner kleinen Serie über Gottesnamen, die ich vor vier Wochen mit „Gott, der ganz Andere“ begonnen habe.

Als Kind hat es mich immer gestört, wenn andere vom Herrn Jesus gesprochen haben. Den Namenszusatz Herr kannte ich natürlich schon, aber den verwendet man doch nur beim Nachnamen, wie bei Herr Müller oder Herr Schmidt, und Jesus war ja der Vorname. Später wurde „Herr“ (ohne Namen) meine persönliche Anrede für Gott im Gebet. In früheren Jahren habe ich Gott fast ausschließlich mit „Herr“ angesprochen, und auch heute dürfte es noch die am häufigsten verwendete Anrede sein.

Die Häufigkeit des Wortes Herr in der Bibel geht auf eine Idee Martin Luthers zurück. Im Judentum ist es üblich, bei der Schriftlesung den Gottesnamen JHWH nicht auszusprechen, weswegen zu Luthers Zeiten schon lange nicht mehr bekannt war, wie man ihn denn korrekt ausspricht. Er hat deshalb an den meisten Stellen – in Anlehnung an die jüdische Tradition – den Gottesnamen bei der Übersetzung mit dem Wort Herr ersetzt.

Ich mag diese Ersetzung. Sie erweist nicht nur der jüdischen Tradition den angemessenen Respekt, sie stellt auch klar, welche Rolle Gott in der Bibel (und nicht nur da) spielt: Er ist der Chef im Ring. Sein Wille und sein Handeln dominiert die Weltgeschichte, im Großen und im Kleinen, und er dominiert auch meine persönliche Geschichte. Sowohl meine Lebensumstände als auch meine Entscheidungen müssen sich an ihm ausrichten. Die äußeren Umstände machen das ohne mein Zutun, bei meinen Entscheidungen bin ich auch selber gefordert, diese Ausrichtung herzustellen.

Aber Luthers Entscheidung hat auch einen großen Nachteil. Als Gott gegenüber Mose seinen Namen nennt, verzichtet er ja bewusst darauf, sich selbst irgendwelche Eigenschaften zuzuschreiben. Gott ist der, der er von sich heraus ist. Punkt. Keine weiteren Erklärungen. Luther ersetzt den Namen für das Wesen Gottes durch eine, wenn auch wesentliche, Eigenschaft. Er beschreibt, und damit reduziert er auch. Die Souveränität, zu entscheiden wie er will, die im Wort Herr zum Ausdruck kommt, ist nur ein Teil der Souveränität Gottes, die darin besteht, eben der zu sein, der er ist.

Es ist diese Falle der Konkretheit, die oft dazu führt, dass uns gerade die Wahrheiten in die Irre leiten. Wir fassen zu eng, wir grenzen die Eigenschaften Gottes auf unsere menschlichen Vorstellungen ein und vergessen: Selbst das beste und größte, was wir uns vorstellen können, ist zu schlecht und zu klein, um Gott so zu beschreiben, wie er wirklich ist. Genau dies ist mir beim Wort Herr passiert, und es gehört zu den schwierigsten Lernprozessen meines Glaubenslebens, mich daraus zu befreien.

Meine Vorstellung von Gott, dem Herrn, ist die eines idealen Arbeitgebers, eines idealen Chefs. Ein Gott, der mir Aufgaben überträgt, die mich herausfordern, die ich aber auch bewältigen kann. Ein Gott, der mir Fehler nicht nachträgt, sondern sie als Ausgangspunkt für zukünftige Lernprozesse sieht. Ein Gott, der mir Erfolgserlebnisse gönnt und mir dabei hilft, möglichst viele davon zu erleben.

Ein toller Gott, wenn man ihn so sieht, und nichts davon ist falsch, aber das Bild ist unvollständig. Und leider fehlt gerade ein Teil, der für mich besonders wichtig ist. Ich wurde so erzogen, dass man für Intelligenz, für seine Talente oder auch für äußere Umstände nichts kann. Dafür ist man nicht verantwortlich, und wenn mir in diesen Bereichen etwas fehlt, darf mir das keiner vorwerfen. Die eigene Zutat ist der Fleiß, einen Mangel davon kann und muss man mir vorwerfen. Fleiß ist Pflicht.

Das ist kein falscher Maßstab, aber es ist leider der Maßstab, bei dem gerade ich mit meiner spezifischen Persönlichkeitsstruktur beständig schlecht wegkomme. Es ist ein Maßstab, der meine Erfolge herabwertet und meine Fehler betont. Es ist ein Maßstab, der meinem chronisch unterentwickeltem Selbstwertgefühl die Chance zum Wachsen nimmt. Und in Verbindung mit meiner Vorstellung von Gott, dem Herrn, verstellt mir dieser Maßstab den Blick darauf, wie sehr Gott mich liebt.

Gott hat für dieses Problem in seiner grenzenlosen Liebe und Souveränität längst seine ganz eigene Lösung gefunden und versucht beständig, sie mir beizubringen. Er will einfach auf eine andere Weise mein Herr sein. Er gibt mir keine Aufträge, sondern schenkt mir Gelegenheiten. Gott hat mir das gerade vor kurzem wieder aufgezeigt, und es ist im Rückblick wirklich verblüffend: Wenn ich in meinem Leben die Initiative ergriffen habe, wenn ich versucht habe, mich für die gute Sache einzusetzen, in einer Situation das Richtige und Nötige zu tun, war das Ergebnis jämmerlich. Was ich versucht habe, auf die Beine zu stellen, war meist den Versuch nicht wert. Die großen und dauerhaften Erfolge in meinem Leben beruhen auf Gelegenheiten, die ganz ohne mein Zutun entstanden sind. Ich habe immer nur dann erfolgreich gebrütet, wenn ich mich ins gemachte Nest gesetzt habe.

Gott ist mein Herr, und ich glaube, das gilt mehr denn je. Aber Gott hat in seiner Liebe und Souveränität diesem Satz speziell für mich eine andere Bedeutung gegeben, als ich lange dachte. Er gibt mir keine Aufträge, die ich zu erfüllen habe. Er geht mir voran, und ich muss ihm so dicht wie möglich folgen. Ich möchte betonen, dass dies Gottes spezielle Lösung für mich ist, und dass es gerade Kennzeichen seiner Souveränität, seines sich-selbst-Seins ist, die Worte „Gott, der Herr“ bei jedem seiner Geschöpfe auf andere Weise mit Leben zu füllen.

Es ist dies eine Form von Nachfolge, mit der sich meine Seele immer noch schwer tut, weil es sich für mich, mit meiner Geschichte und Prägung, nach einem Leben in ständiger Pflichtverletzung anfühlt. Denn selbst wenn da Aufgaben sind, die getan werden müssen, selbst wenn meine Fähigkeiten gefragt wären, und ich glaube, die anstehenden Aufgaben bewältigen zu können: Wenn ich meinen Herrn nicht voraus gehen sehe, muss auch ich die Füße still halten, und das fällt mir schwer. Aber wenn ich das wirklich ernst meine, dass Gott mein Herr ist, dann muss ich ihm auch die Entscheidung überlassen, wie er mein Herr sein will, wie er dieses Wort mit Leben füllen will. Und ich lerne dabei: Egal was meine Vorstellungen dazu sagen: Gottes Wege sind gut für mich.

Gott, die Zuflucht

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Ich habe in einem früheren Eintrag erzählt, dass es mir schwer fällt, Gottes Nähe zu suchen. Das liegt gerade einmal zweieinhalb Monate zurück, und ich stelle beim Schreiben dieser Zeilen fest, wie viel sich seither bei mir getan hat. Ich habe erlebt, wie ich in Gottes Nähe Ruhe, Ermutigung und Stärkung erfahren durfte, gerade in schwierigen Situationen. Und ich habe mich immer wieder in Gottes Nähe wohl und geborgen gefühlt. Die Gefühle, die mich von Gott fern halten wollen, sind noch da, aber sie sind in den letzten Monaten spürbar schwächer geworden.

Eines der ersten Bücher zum Thema Homosexualität, das ich gelesen habe, verwendet das Bild eines Baches. Wird sein Bachbett durch äußere Ereignisse, zum Beispiel einen Erdrutsch, blockiert, sucht sich der Bach einen neuen Weg und bildet sich ein neues Bett. Will man den Bach zurück in sein altes Bett bringen, muss man zunächst die Blockade entfernen. Danach bedarf es nur ein wenig Hilfe, damit der Bach sein altes Bett wiederfindet und fortan wieder hier fließt.

Der Autor meinte, dass bei jedem Menschen die Heterosexualität das natürliche Bachbett sei, und dass eine sexuelle Orientierung auf das gleiche Geschlecht nur entstehen könne, wenn die „natürliche“ Entwicklung durch äußere Umstände blockiert sei. Man müsse dann nur die Blockade entfernen und ein wenig „nachhelfen“ schon würde aus dem Schwulen und der Lesbe wieder ein „gesunder Hetero“.

Wer als schwuler oder lesbischer Mensch halbwegs mit sich selbst im Reinen ist, wird diesen Unsinn sofort durch ein wenig Selbstbeobachtung als solchen identifizieren können. Heteros tun sich da schwerer, insbesondere wenn sie keine gleichgeschlechtlichen Paare in ihrem Freundeskreis haben. Ihnen fehlt die Erfahrung aus erster Hand. Gefährlich wird diese Vorstellung für Menschen, die tatsächlich solche Blockaden in ihrem Leben haben. Denn das Bild ist ja nicht prinzipiell falsch: Die natürliche Entwicklung eines jungen Menschen kann ja durch vielerlei äußere Ereignisse blockiert und in falsche Bahnen gebracht werden.

Mich hat damals das Bild mit dem Bachbett sehr angesprochen, ich habe mich darin wiedergefunden. Mittlerweile konnte ich mit Gottes Hilfe viele dieser Blockaden entfernen, und vieles in meinem Leben, das früher blockiert war, fließt wieder in den richtigen Bahnen. Deshalb kann ich auch zweifelsfrei sagen, dass mein persönliches, natürliches Bachbett schwul ist, dass meine sexuelle Orientierung ein Teil dessen ist, wie Gott mich gedacht hat. Damals, als ich dieses Buch gelesen habe, war mir diese Erkenntnis verwehrt.

Ich habe mich seinerzeit in die Hände derer begeben, die dieses Verständnis von Homosexualität vertreten haben, weil ich zurecht der Überzeugung war, dass bei mir solche Blockaden vorlagen. Diese Menschen haben mir auch tatsächlich geholfen, einige dieser Blockaden zu entfernen. Aber leider haben sie sie durch neue ersetzt. Sie haben Kiesel weggeräumt und Felsbrocken herbeigeschafft. Sie haben entfernt, was mir eine erfüllte, lebenslange Beziehung erschwert hätte, aber sie haben mir gleichzeitig eine erfüllte, lebenslange Beziehung unmöglich gemacht. Sie wollten mir den Zugang zu anderen Menschen erleichtern und haben mir den Zugang zu Gott erschwert. Sie haben den Splitter aus meinem Auge entfernt und statt dessen einen Balken eingesetzt.

Von allen Blockaden, die sich in unser Leben eingeschlichen haben, sind die am schlimmsten, die zwischen uns und Gott liegen. Jesus sagt:

Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.

Es ist Gottes Wille, dass wir bei ihm Zuflucht finden, dass wir Ruhe finden für unsere Seelen. Das ist der Qualitätserweis des Jochs Jesu. Wie ich schon vor einigen Wochen geschrieben habe: So etwas braucht Zeit. Die menschliche Seele hält an dem fest, was sie kennt, und selbst an die Ruhe in Gottes Nähe muss sie sich erst langsam gewöhnen. Aber wenn diese Ruhe auf Dauer ausbleibt, dann tragen wir nicht das Joch Jesu, sondern ein Joch, das uns Menschen auferlegt haben.

Viele Blockaden sind bei mir heute beseitigt, auch viele derer, die andere Christen in meinem Leben aufgetürmt haben. Darunter kommt ein Bachbett zum Vorschein, das nicht so aussieht, wie ich es mir vor 20 Jahren vorgestellt habe, und viele Christen können sich bis heute nicht vorstellen, dass ein natürliches Bachbett so aussehen könnte. Aber das spielt keine Rolle, denn ich spüre, dass das Wasser mehr und mehr wieder da fließt, wo es fließen soll. Und als Folge erlebe ich, dass ich Gott meine Zuflucht nennen kann, nicht nur aus theologischer Überzeugung, sondern aus persönlicher Erfahrung.