Monatsarchiv: März 2019

Stufen

Veröffentlicht am

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse1

Vor ein paar Wochen habe ich mich aus der Gemeinde verabschiedet, die für die letzten zwanzig Jahre meine geistliche Heimat war. Dieser Schritt war überfällig, und der Abschied ist mir erstaunlich leicht gefallen – leichter jedenfalls, als den meisten übrigen Gemeindemitgliedern. Ich will nicht ausschließen, dass es in der Gemeinde auch Menschen gibt, die froh sind, dass ich endlich weg bin, aber mir gegenüber hat keiner sich auch nur ansatzweise in diese Richtung geäußert. Überhaupt bin ich von Gemeinde und Gemeindeleitung in den Jahren nach meinem Coming Out immer nur freundlich und mit großem Respekt behandelt worden. Und es wäre auch alles in Ordnung, wenn da nicht gewisse theologische Überzeugungen wären im Bezug auf LGBTQ+, die nichts anderes sind als pures Gift.

Wie bei anderen Giften die Biologen und Chemiker sind es hier Exegeten und Theologen, die ausführlich und kenntnisreich über die genaue Wirkung und die Schädlichkeit toxischer Theologie diskutieren können. Aber wer an der Giftwirkung einer Substanz zweifelt, dem steht es frei, mit einer (hoffentlich wohlabgemessenen) Dosis die Wirkung am eigenen Leib zu erfahren. Die schädliche Wirkung giftiger Theologie habe ich mehr als ausreichend erfahren, und das geht ja nicht nur mir so, nachzulesende Beispiele gibt es mittlerweile genug. Timo Platte hat in seinem Buch Nicht mehr schweigen 25 Lebensberichte zusammengetragen und veröffentlicht. Das Buch löst keine theologischen Detailfragen, aber es klärt die Frage, in welche Richtung die Theologie gehen muss, wenn sie Menschen nicht schaden, sondern helfen will.

In den letzten Monaten habe ich gespürt, dass ich die schädlichen Wirkungen toxischer Theologie nicht einfach durch Wechsel meiner Überzeugungen los werde, dass ich nicht einfach eine Auslegung des biblischen Textes durch eine andere ersetzen kann, und schon wird alles gut. Die Veränderung, so sie denn wirklich heilsam sein soll, muss tiefer gehen. Der Abschied aus meiner bisherigen Gemeinde ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg. Die Veränderung meiner theologischen Denkweise und damit auch meiner Beziehung zu Gott (beides hängt ja immer zusammen) ist ein längerer Prozess, dessen Auswirkungen ich allmählich spüre.

Meine bisherige theologische Praxis war vor allem apologetisch geprägt. Die Bibel diente mir zur Bestätigung und Verteidigung von Glaubensüberzeugungen, an deren grundsätzlicher Richtigkeit ich nie ernsthafte Zweifel hatte. Nicht selten habe ich dabei versucht zu verteidigen, was mit vernünftigen Mitteln nicht zu verteidigen ist. Der apologetische Ansatz soll zu einem festen, unerschütterlichen Glauben verhelfen, aber er führt allzu leicht zu einer erstarrten, toten Theologie, die zwar dem Namen nach noch Lehre von Gott ist, aber einem lebendigen Gott nicht mehr gerecht werden kann.

In den Gesprächen über den Glauben vor allem mit LGBTQ+-Christen, aber auch mit manchen alten Freunden, spüre ich allmählich, wie sich ein neues Element, eine neue Motivation zur theologischen Betrachtung Raum in meinem Denken verschafft: Es ist die Bereitschaft und der Wunsch, über all dem Neuen, dass es über Gott zu lernen gibt, meine alten, gewohnten Überzeugungen in Frage zu stellen, aufs Spiel zu setzen, preiszugeben. Es ist, zumindest in Ansätzen, aufkeimend, die reine, unverstellte Neugier. Und das ist gut so und darf gerne mehr werden.

In dieser Phase meines Lebens bin ich auf das eingangs zitierte Gedicht von Hermann Hesse gestoßen, das mich sehr berührt hat, und in dem ich mich wiederfinde. Meist wird ja das Ende der ersten Strophe zitiert, der Zauber des Anfangs, aber gerade davon spüre ich derzeit noch recht wenig. Der Abschied aus der Gemeinde ist noch im Wesentlichen Trennung und noch nicht wirklich Aufbruch, und noch geht es für mich eher um die Dekonstruktion toxischer Theologie, um meine geistliche Entgiftung als um den Aufbau neuer Glaubensinhalte. Aber Hesses Worte machen mir Mut zu beidem.

In der letzten Strophe des Gedichts geht es zwar um die Todesstunde, aber ich glaube, die allerletzte Zeile des Gedichts bezieht sich nicht nur auf die letzte Strophe, sondern auf das ganze Gedicht, nicht nur auf den Tod, sondern auf das Ende jeder Lebensphase. Das gilt für mich umso mehr, weil ich weiß, dass das ewige Leben nicht nur ein Versprechen für die Zukunft nach meinem leiblichen Tod, sondern durch den Heiligen Geist schon eine jetzt erfahrbare Wirklichkeit ist. Für Hesse ist es der Weltgeist, der uns Stuf’ um Stufe heben, weiten will, für mich ist die Lebendigkeit des Auferstandenen, die mich aus toxischem Umfeld heraushebt und meinen Blick weitet, auch den theologischen.

Ich denke, auch mit viel Dankbarkeit, an eine Gemeinde die zwanzig Jahre geistliche und theologische Heimat für mich war. Und dann denke ich: Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!


 

Schlechte Witze

Veröffentlicht am

Die fünfte Jahreszeit ist vorüber, ebenso die üblichen politischen Aschermittwoche, und so langsam ebben auch die Diskussionen ab über das Zitat aus Annegret Kramp-Karrenbauers Rede beim Stockacher Narrengericht. Ich möchte es hier trotzdem noch einmal aufwärmen. Es lautet in voller – äh – Schönheit:

Guckt Euch doch mal die Männer von heute an: Wer war denn von Euch vor Kurzem mal in Berlin, da seht Ihr doch die Latte-Macchiato-Fraktion, die die Toiletten für das dritte Geschlecht einführen. Das ist für die Männer, die noch nicht wissen, ob sie noch stehen dürfen beim Pinkeln oder schon sitzen müssen. Dafür – dazwischen – ist diese Toilette.

Um erst mal das Offensichtliche aus dem Weg zu räumen: Natürlich darf man Witze über Minderheiten machen. Die meisten Witze drehen sich um Menschen oder um Gruppen, die auf die eine oder andere Weise eine Minderheit darstellen. Und natürlich darf man Witze machen, von denen sich Menschen angegriffen oder herabgesetzt fühlen. Zu fast jeden guten Witz wird sich jemand finden, der so empfindet. Und wenn es in Richtung Satire geht, besteht ja der Sinn des Witz gerade darin, Menschen anzugreifen, die es mutmaßlich verdient haben. Ralph Ruthe bringt das Problem in einem seiner Videos sehr gut auf den Punkt:

Trotzdem gibt es Unterschiede, gibt es gute und schlechte, angemessene und unangemessene Witze. Und auch wenn das eine subjektive Einschätzung ist: Kramp-Karrenbauers Witz ist für mich eindeutig unangemessen, und zwar gleich aus drei Gründen.

Zunächst macht es einen großen Unterschied, ob die Minderheit, über die man Witze macht, verfolgt oder gesellschaftlich anerkannt ist. Meine Mutter hat noch die letzten Kriegsjahre erlebt. Ihr Vater hatte während des Dritten Reichs eine junge Familie zu ernähren und musste sich dazu mit Menschen gut stellen, die er bestimmt viel lieber hochkant rausgeworfen hätte. Als Konsequenz aus diesen Erlebnissen wurde ich (Jahrzehnte später) so erzogen, dass Witze über Juden, egal in welcher Form, Tabu sind.

Natürlich ist die Situation Intergeschlechtlicher Menschen nicht vergleichbar mit der der Juden im Dritten Reich; sie werden nicht systematisch umgebracht, und sie leben in einem Rechtsstaat, in dem sie die Chance haben, ihre Rechte auch gegen eine inter-feindliche Politik durchzusetzen. Trotzdem ist die Lage nach wie vor erschreckend: So genannte kosmetische Genitaloperationen an Kindern, an denen die Betroffenen oft lebenslang leiden, sind immer noch üblich. Wir reden von einer Minderheit, deren Anderssein regelmäßig im Kindesalter wegoperiert wird – ohne jede Rücksicht auf die tatsächliche geschlechtliche Identität dieser Kinder, die ja im entsprechenden Alter meist noch nicht erkennbar ist. Dass bei Witzen über diese Menschen zumindest Vorsicht angebracht ist, sollte sich von selbst verstehen.

Denn es spielt auch eine sehr große Rolle, wie man Witze über eine Minderheit macht. Klischees können einem zuweilen ziemlich auf die Nerven gehen, sie können aber auch sehr amüsant sein. Als schwuler Mann finde ich viele Witze, die mit Schwulen-Klischees spielen, sehr lustig, das ist für mich in den meisten Fällen völlig ok. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn meine Identität oder gar mein Existenzrecht infrage gestellt oder geleugnet wird. Genau das tut zum Beispiel für die angehörigen indigener Völker das „Indianer“-Kostüm zu Fasching. Das ist für uns in Deutschland schwer zu begreifen, weil sowohl die reichhaltigen und unterschiedlichen Kulturen der indigenen Völker Amerikas als auch deren Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte für uns weit weg sind, aber das „Indianer“-Kostüm zieht tatsächlich deren ganze Kultur und Identität ins Lächerliche, wie das auch viele andere Kostüme tun, die fremde Völker zum Thema haben.

Genau in so eine Richtung geht aber der Witz Kramp-Karrenbauers: Sie macht sich nicht über die (tatsächlichen oder eingebildeten) Marotten oder Verhaltensweisen intergeschlechtlicher Menschen lustig, sie stellt Intergeschlechtlichkeit an sich als eine Marotte verunsicherter Männer dar. Sie leugnet damit die Existenz Intergeschlechtlicher Menschen als eigenständiger Gruppe, als eigenständige Kategorie geschlechtlicher, ja menschlicher Identität. Für die Betroffenen, die mitten im Kampf um rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung stehen, kann sich das nicht anders als wie ein unfairer Tiefschlag angefühlt haben.

Das führt mich zu meinem dritten Punkt, nämlich das es auch wichtig ist, wer einen Witz über eine Minderheit macht. Kramp-Karrenbauers Äußerung wurden häufig in Bezug zu Bernd Stelter gebracht, der sich zuvor in einer Faschings-Veranstaltung über Doppelnamen lustig gemacht hat und in diesem Zusammenhang auch über den Namen Kramp-Karrenbauers herzog. Bernd Stelter ist Komiker. Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, Witze zu machen. Nicht, dass das irgendwie falsch oder unbedeutend wäre, aber darüber hinaus hat er keine gesellschaftliche Bedeutung, keinen Einfluss.

Kramp-Karrenbauer ist Vorsitzende einer der größten politischen Parteien in Deutschland und wird in dieser Funktion als mögliche nächste Bundeskanzlerin gehandelt. Sie gehört zum Kreis der mächtigsten Politikern dieses Landes. Als Spitzenpolitikerin in einem demokratischen Rechtsstaats ist sie dem in der Verfassung festgeschriebenen Schutz von Minderheiten verpflichtet, zu denen laut Bundesverfassungsgericht auch intergeschlechtliche Menschen gehören. Sich in dieser Position einen Witz zu erlauben, der die Identität und das Existenzrecht intergeschlechtlicher Menschen in Frage stellt, hat ein ganz andere Qualität, als wenn Bernd Stelter das täte – und soweit ich weiß, tut er das nicht.

Es ist übrigens überhaupt nicht nötig, jetzt jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Jeder Mensch hat einen moralischen Kompass, und damit ein instinktives Gefühl, welche Witze angemessen sind und in welcher Situation. Dieser moralische Kompass ist aber nicht angeboren, sondern wird im Lauf des Lebens geformt, zuerst durch die Erziehung, später zunehmend durch eigenes Nachdenken und eigene Entscheidungen. Wem Minderheitenschutz ein wichtiges Anliegen ist, und wer sich auch gerne über die Anliegen von Minderheiten informiert, ist ganz von selbst wenig geneigt, herabsetzende Witze über Minderheiten zu machen, und muss dazu nicht mal groß nachdenken. Und wenn eine solche Person doch mal einen solchen Witz macht, wird sie, wenn sie darauf hingewiesen wird, ganz selbstverständlich den Witz aus ihrem Repertoire streichen und sich freuen, etwas Neues gelernt zu haben.

Kramp-Karrenbauer hat nicht deshalb einen unangemessen und herabsetzenden Witz über intergeschlechtliche Menschen gemacht, weil sie zu wenig aufgepasst hat, weil sie ihre Worte nicht auf die sprichwörtliche Goldwaage gelegt hat. Sie hat einen unangemessenen und herabsetzenden Witz gemacht, weil es ihr längst zur Gewohnheit geworden ist, sich herabsetzend über LGBTIQ+ zu äußern. Sie hat damit ihren moralischen Kompass schon so weit verbogen, dass ihr die Unangemessenheit ihres Witzes gar nicht mehr auffallen konnte. In diesem Sinne: Lasst unsere Politiker nur Witze machen: Sie verraten dabei vielleicht mehr über sich, als ihnen lieb sein kann.

Allgemeine Lage

Veröffentlicht am

Wie die Zeit vergeht: Über ein Jahr ist mein letzter Eintrag auf dieser Seite alt. Höchste Zeit, mal wieder etwas „Content“ zu produzieren, zumal sich bei mir ein paar Themen angesammelt haben, über die ich gerne schreiben würde. Zum Wiedereinstieg gibt’s ein paar Worte zur Lage der Nation, will sagen, zur aktuellen Nachrichtenlage der queeren Christenheit.

Das Nachrichtenportal queer.de listet in der Rubrik „Glaube“ für dieses Jahr bereits 20 Artikel auf. Die meisten davon beschäftigen sich mit der Katholischen Kirche und ihren mehr oder weniger würdigen Würdenträgern. Das ist nicht weiter verwunderlich: Die schlimmsten homophoben Wortmeldungen in der deutschsprachigen Öffentlichkeit kommen häufig von römisch-katholischen Bischöfen, aber auch der Meinungskampf zum Thema Homosexualität wird in kaum einer Organisation so offen und so öffentlich geführt wie unter den Katholiken. Der Weg zu einer Segnung gleichgeschlechtlicher Paare erscheint mir noch sehr weit, aber er wird mittlerweile von katholischen Bischöfen und Theologen aktiv beschritten. Und der Versuch, den katholischen Theologen Ansgar Wucherpfennig wegen eben dieser Haltung aus dem Amt zu entfernen, ist bekanntlich gescheitert.

Als durchaus überzeugter nicht-Katholik beobachte ich die Lage als Außenstehender. Viel näher trifft mich die Situation in der evangelisch-freikirchlichen Welt, zu der queer.de in den letzten zwei Monaten auch bereits vier verschiedene Meldungen herausgebracht hat. Am Anfang dieser Woche entschied sich die Generalkonferenz der Evangelisch-methodistischen Kirche mit knapper Mehrheit, die bisherige, ablehnende Haltung gegenüber gleichgeschlechtlichen beizubehalten und zusätzlich anders denkenden Pastoren und Gemeinden mit Sanktionen bis hin zum Ausschluss zu drohen. Das Entsetzen gerade unter den europäischen Methodisten scheint groß zu sein. Von einem ungewissen Weg in die Zukunft, ja von Spaltung der Evangelisch-methodistischen Kirche ist die Rede.

Auch vom Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland gibt es eine neue „Orientierungshilfe“ zum Thema Homosexualität, die Ende letzten Jahres erschienen ist und im Februar in vielen Medien diskutiert wurde. Der evangelische Pfarrer und Theologe Dr. Wolfgang Schürger sieht bei Kreuz & queer einen Schritt in die richtige Richtung und zieht ein überwiegend positives Fazit. Das mit dem Schritt in die richtige Richtung kann ich nachvollziehen, das positive Fazit nicht. Das alte Papier des FeG-Bundes von 2004 enthält ein paar recht offensichtliche Lügen, die sich für mich teilweise am Rand der Verleumdung bewegten. Das neue Dokument ist wesentlich sorgfältiger formuliert, aber deshalb nicht weniger gefährlich. Die neuen Formulierungen ändern nichts daran, dass die vertretenen Thesen krank machend sind und Menschen schweren Schaden zufügen können. Gerade weil allzu offensichtliche Lügen durch plausibel klingende Un- und Halbwahrheiten ersetzt wurden, ist das Dokument schwerer angreifbar und widerlegbar. Ich fürchte, deshalb werden die Inhalte auch von wohlmeinenden Christen eher geglaubt und können damit in der Praxis auch mehr Schaden anrichten.

Mein Eindruck ist allerdings, dass sich das Dokument aber gar nicht so sehr an LGBTQ+-Christen, sondern an anders denkende Pastoren und Gemeindeleitungen richtet. Im Gegensatz zu den Methodisten kann der Bund Freier evangelischer Gemeinden nicht so einfach seine Position nach unten durchregieren, weil die Strukturen andere sind. Dass die Bundesleitung glaubt, ihre Position so wortreich vertreten zu müssen, zeigt schon, dass sie längst nicht mehr von allen Freien evangelischen Gemeinden geteilt wird.

Ich denke da an eine Predigt von Pastor Lars Linder aus der FeG Essen Mitte vom November 2017, die mir sehr nahe gegangen ist. Ich möchte einen Gedanken aus dieser Predigt aufgreifen:

Kirche hat fasziniert, weil sie mit Menschen – die verachtet, stigmatisiert, an den Rand geschoben waren – umgegangen ist in einer Art und Weise, die einzigartig war. (…) Deshalb war Kirche in den ersten Jahrhunderten missionarisch, einladend. Eine Haltung, die Gemeinde Jesu immer wieder neu erkämpfen und erleben lernen muss.

Es geht heute nicht mehr nur darum, ob eine Randgruppe auch ihren Platz am Tisch des Herrn haben darf – auch wenn das allein schon wichtig genug ist. Es geht mittlerweile um deutlich mehr. Es geht um die gesellschaftliche Relevanz, um die ethische Glaubwürdigkeit, um die missionarische Wirksamkeit der christlichen Verkündigung. Wer Schwule und Lesben ins Abseits stellt, stellt sich damit – völlig zurecht – ins gesellschaftliche Abseits und disqualifiziert sich als ethisch-moralische Instanz. Als Beleg seien zwei Zitate aus den Kommentaren bei queer.de angeführt. Zu der Entscheidung bei den Methodisten kommentiert Ralph:

Diese Banden sagen, schwul sein ist unvereinbar mit dem Christentum. Ich aber sage: Das Christentum ist unvereinbar mit Anstand und Vernunft, mit Menschenwürde und Grundrechten, mit Freiheit und Vielfalt.

Und zur „Orientierungshilfe des FeG-Bundes“ schreibt NeverEnding:

Es gibt immer wieder Leute, die meinen, es besser wissen zu wollen. Die keine Fakten kennen und nur ihre eigene Lebenswelt wettschätzen. Die übrigens keine Nächstenliebe umsetzen können.

Die Leser von queer.de sind kein repräsentativer Schnitt durch die Gesellschaft, aber die in diesen Kommentaren vertretene Ansicht ist auch jenseits der queeren Weilt weit verbreitet.

Der Apostel Paulus schreibt an die Korinther:

Niemandem geben wir auch nur den geringsten Anstoß, damit unser Dienst nicht verhöhnt werden kann.

Zu viele Christen sehen es leider immer noch als Gütesiegel ihres Glaubens, wenn sie in der Zivilgesellschaft Anstoß erregen. Und zu viele andere Christen spielen dieses Spiel mit, nehmen um des lieben Friedens willen in Kauf, sich in weiten Teilen der Gesellschaft als moralische Instanz zu disqualifizieren. Lieber ein schlechtes Beispiel in Frieden als ein gutes Beispiel im Streit. Ich kann das absolut nachfühlen, aber das macht es nicht besser.

Ich habe den allergrößten Respekt vor den Pionieren der queeren Christenheit, vor einem Günter Baum, einer Valeria Hinck und den vielen anderen, die unter schwierigsten Bedingungen für Toleranz gekämpft haben, als Akzeptanz noch in unerreichbarer Ferne schien. Die Zeiten haben sich – Gott sei Dank – geändert, und ich glaube, es ist an der Zeit, dass die „Verbündeten“, die cis-hetero-Christen sichtbar und laut in diesen Kampf mit einsteigen, ihn vielleicht sogar übernehmen. Denn wenn die Situation der LGBTQ+-Christen so endet, wie in der Zeichnung des nakedpastor David Hayward, ist das nicht nur zum Schaden dieser Menschen, es ist zum Schaden des ganzen Leibes Christi.