Monatsarchiv: Mai 2016

Frömmigkeit

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Der Sabbat wurde für den Menschen geschaffen und nicht der Mensch für den Sabbat.

Das sagte Jesus zu den Pharisäern und zeigt damit eine wichtige Eigenschaft christlicher Ethik, die weit über das Sabbat-Gebot hinaus gilt. Über die Einhaltung des Feiertags wird ja heute relativ wenig diskutiert, die Streitpunkte liegen woanders.

Letzte Woche ging es hier unter anderem darum, dass Gottes Willen aus der Schöpfung erkennbar ist. Das hat zumindest da Auswirkungen, wo sich christliche Ethik und Morallehre mit eher weltlichen Themen beschäftig. Christen haben also kein durch die Bibel vermitteltes Exklusivwissen, dass der restlichen Welt fehlt. Christen haben höchstens ein tieferes, im Detail genaueres Verständnis einer Morallehre, die sie grundsätzlich mit allen moralisch hoch stehenden Menschen und Kulturen teilen. Die Vergeistigung und Verabsolutierung moralischer Vorstellungen, wie sie sich in den pharisäischen Sabbatvorschriften zur Zeit Jesu zeigt, ist also unbiblisch und unchristlich.

Was ich damit meine, lässt sich schön an der gewandelten Bedeutung des alten Wortes fromm erkennen. Es bedeutete früher nützlich und tüchtig, im erweiterten Sinne auch rechtschaffen. Im 16. Jahrhundert war es unter anderem als Lobeswort für brave und brauchbare Haustiere durchaus gebräuchlich.

Nun ist auch der rechte Christ in diesem Sinne fromm, weil er tüchtig und rechtschaffen das Werk des Herrn tut und damit für Gott und die Menschen nützlich ist. Ab hier hat sich die Bedeutung allerdings verselbständigt: Fromm ist nicht mehr, wer gut und rechtschaffen handelt, sondern wer sich allein auf Gott als Quelle der Rechtschaffenheit konzentriert. Aus einer Hinwendung zu Gott und den Menschen, die Nutzen zu schaffen versucht, wurde zunächst eine reine Hinwendung zu Gott, der der Nutzen egal ist, und schließlich eine Gottbezogenheit, die mit einer Abkapselung von der Welt und einer durchaus beabsichtigten Nutzlosigkeit für diese einher geht. Wer heute fromm sein will, schottet sich von der Welt ab, wird also gewissermaßen weltfremd, und das mit voller Absicht – das ist so ziemlich das Gegenteil der ursprünglichen Wortbedeutung.

Wenn wir nicht aufpassen, geht es uns mit christlicher Ethik genauso. Aus einer Vorschrift, die das Wohl des Menschen zum Ziel hatte, wird ein göttliches Prinzip, das unabhängig vom Menschen gilt, und schließlich ein starres Schema, in das der Mensch gepresst werden muss, um ihn zu formen, um aus ihm etwas zu machen, das er nicht ist. Die Ethik dient nicht mehr dem Menschen, der Mensch dient der Ethik.

Nirgends zeigt sich das zurzeit deutlicher als an der christlichen Sexualethik. Die Ehe ist nicht mehr ein hilfreicher Rahmen, der den Menschen dient und das Glück in Beziehungen fördert, sie ist göttliches Schöpfungsprinzip, in das sich der Mensch einzufügen hat. Dass die Apologeten dieser transzendenten Schöpfungsordnung ein Ehe- und Familienverständnis propagieren, das mit dem Verständnis zu biblischen Zeiten wenig zu tun hat, sei nur am Rande erwähnt. Trotzdem ist jeder Zweifel an diesem Ehemodell für diese Christen pure Ketzerei.

Gleiches geschieht mit der biblischen Unterscheidung von Mann und Frau. Sie verliert ihre Bedeutung als Orientierung, die uns hilft, uns selbst und unseren Platz in der Welt zu finden, und wird zum heteronormativen Schema, in das alle Menschen zwangsweise gepresst werden müssen.

Es ist an der Zeit, dass sich die Frommen auf die alte Bedeutung von Frömmigkeit besinnen, dass sie danach sinnen, was Menschen wirklich nützt, was ihnen frommt. Christliche Ethik und Morallehre ist natürlich keine reine Nützlichkeitserwägung, aber ohne die Nützlichkeitserwägung hört sie auf, christlich zu sein. Und wenn es um die Ehe, vor allem wenn es um gleichgeschlechtliche Ehen geht, muss an erster Stelle stehen, dass die Ehe für den Menschen geschaffen wurde und nicht der Mensch für die Ehe.

Natürlicher Verkehr

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Von den ganz wenigen Bibelstellen, die sich mit gleichgeschlechtlichem Sex beschäftigen, ist die im Römerbrief die ausführlichste. Wobei ausführlich hier ein relativer Begriff ist, denn es geht um zwei Verse. Dennoch gelten diese beiden Verse als die schärfste Waffe im Arsenal der Gegner gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Es ist also sicher nicht verkehrt, wenn ich mich in diesem Blog einmal mit dieser Bibelstelle auseinandersetze.

Die beiden Verse sind eingebettet in einen längeren Abschnitt (Römer 1, 18 – 32), der in der Lutherbibel mit „Die Gottlosigkeit der Heiden“ überschrieben ist. Die Aussage des Abschnitts ist, grob gesagt, dass Gottes Wesen in seiner Schöpfung erkennbar ist, dass alle, die sich nicht um ihn kümmern, keine Entschuldigung haben, weil sie es besser wissen könnten, und dass Verstöße gegen den in der Schöpfung offenbarten Willen Gottes zwangsläufig negative Folgen für uns habe, vor denen Gott uns nicht bewahrt.

Zur Illustration der letzten Aussage schreibt Paulus im Vers 26 über Sex zwischen Frauen und im Vers 27 über Sex zwischen Männern. Aus dem Textzusammenhang wird deutlich, dass es nicht Paulus‘ Absicht ist, seinen Lesern etwas über die moralischen Implikationen gleichgeschlechtlichen Verkehrs zu sagen. Vielmehr verwendet er einen offensichtlich zu diesem Thema vorhandenen Konsens dazu, um seine viel weiter reichende These mit einem Beispiel zu untermauern. Und deshalb muss man sich als sorgfältiger Ausleger der Bibel erst mal damit beschäftigen, worin dieser Konsens eigentlich besteht.

Das antike Verständnis von Homosexualität ist sehr stark tatorientiert. Männer haben Sex mit Männern, Frauen haben Sex mit Frauen. Es ist sehr stark getrieben von dem Motiv der Lustbefriedigung. Gerade in der römisch-hellenistischen Kultur gehen gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen regelmäßig mit Ehebruch und sexuellen Exzessen einher. Wenn einem das andere Geschlecht nicht reicht, treibt man es eben auch noch mit dem eigenen. Dort, wo gleichgeschlechtliche Beziehungen moralisch gerechtfertigt werden, macht es das aus christlicher Sicht eher noch schlimmer. Gleichgeschlechtliche Beziehungen dienen zur Zementierung von Macht und Abhängigkeit und angesichts des jugendlichen Knaben als weitverbreitetem erotischen Schönheitsideal als pädagogisch verbrämte Rechtfertigung für sexuellen Missbrauch Minderjähriger.

Angesichts solcher Zustände trifft Paulus unter moralisch gesinnten Menschen auf eine breiten und entschiedenen Konsens der Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen und kann diese als Beispiel für seine Thesen verwenden. Unser Verständnis von Homosexualität unterscheidet sich jedoch entscheidend von dem der Antike. Es ist bestimmt vom Konzept der sexuellen Orientierung, also von der Idee, dass die Gruppe von Menschen, zu denen ein Individuum eine romantische und erotische Anziehung entwickeln kann, von Natur aus begrenzt ist, und dass es moralisch falsch ist, diese Begrenzung zu überschreiten. Unsere Vorstellung der Freiwilligkeit der Ehe, die basierend auf gegenseitiger Zuneigung geschlossen wird, und unsere strikte Ablehnung jeder Form von Zwangsehen beruht auf diesen Gedanken. Übrigens eine Vorstellung von Ehe, die in der Antike bekannt, aber in der Praxis nicht sehr weit verbreitet war.

Angesichts dieser Hintergründe ist es absurd, Paulus eine explizite Aussage zum Thema sexuelle Orientierung zu unterstellen. Ihm war weder die Unterscheidung zwischen sexuellem Exzess und sexueller Orientierung bekannt, noch konnte er sie innerhalb seiner Kultur überhaupt treffen. Sein Urteil bezieht sich rein auf die realen Verhältnisse in der Gesellschaft seiner Zeit und ist in diesem Rahmen auch völlig richtig.

In diesem Zusammenhang spricht Paulus auch vom natürlichen Verkehr zwischen Mann und Frau. Er ist eingebettet in eine verantwortliche, auf Treue und (im Idealfall) gegenseitiger Wertschätzung beruhenden, exklusiven eins-zu-eins-Beziehung. In der Antike war eine solche Beziehung zwischen zwei Männern oder zwei Frauen kaum denkbar und vor allem in der Praxis nicht lebbar. Paulus unterscheidet also zwischen der natürlichen, ehelichen Beziehung und einer bestimmten Form außerehelicher Beziehung, die in vielerlei Hinsicht wenig mit der ehelichen Gemeinschaft zu tun hatte. Eheliche Beziehungen waren nur zwischen Mann und Frau möglich, und gleichgeschlechtliche Beziehungen waren durch die gesellschaftlichen Verhältnisse immer dem Wesen nach ehefremd.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der diese Unterscheidung aufgehoben ist. Gleichgeschlechtliche Beziehungen werden nach den gleichen ethischen und moralischen Maßstäben wie gemischtgeschlechtliche Beziehungen geführt. Der Automatismus gleichgeschlechtlich gleich ehefremd funktioniert nicht mehr. Natürlicher Geschlechtsverkehr im Sinne von Paulus ist zweifellos eingebettet in eine verantwortliche, auf gegenseitiger Zuneigung basierende Beziehung. So und nur so ist er schöpfungsgemäß.

Geschlechtsverkehr eines schwulen Mannes mit einer Frau oder einer lesbischen Frau mit einem Mann ist dem Wesen nach zutiefst unnatürlich, weil sie der schöpfungsmäßigen Einordnung der Sexualität in eine viel umfassendere Beziehung völlig widerspricht. Die Unterscheidung zwischen natürlich und unnatürlich nach Paulus ist aus heutiger Sicht also entweder eine Unterscheidung nach Art der Beziehung oder nach Geschlecht des Partners. Wer hier den Unterschied zwischen natürlich und unnatürlich auf hetero und homo bezieht, leugnet damit die ethische Relevanz von Zuneigung und gegenseitiger Anziehung und widerspricht unserem heutigen Eheverständnis.

Und wie sieht es mit der Gesamtaussage des Abschnittes aus? Wer sich umsieht in unserer Gesellschaft, trifft auf gleichgeschlechtliche Paare, die die gleichen Probleme haben wie alle andere Paare, die aber auch die gleiche Ergänzung und Erfüllung, das gleiche Glück und den gleichen Segen erleben. Wenn sich Paulus‘ Worte auf verantwortlich gelebte gleichgeschlechtliche Beziehungen anwenden lassen, dann muss das auch für die von ihm beschriebenen Konsequenzen gelten, dann müssen gleichgeschlechtliche Beziehungen grundsätzlich negative Folgen haben, schlecht ausgehen, den Partnern Schaden zufügen. Ein Blick auf die realen Verhältnisse gleichgeschlechtlicher Paare und ein Vergleich mit den Verhältnissen anderer Paare zeigt dieses Bild eindeutig nicht. Wir kommen immer noch aus einer Historie der Verfolgung und Unterdrückung Homosexueller. Gleiche Randbedingungen waren für gleichgeschlechtliche Paare lange unmöglich und sind immer noch bei weitem nicht vollständig erreicht. Aber dort, wo gleiche Voraussetzungen vorhanden sind, zeigen sich auch die gleichen Ergebnisse. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind nicht weniger stabil, nicht weniger erfüllend, nicht weniger glücklich als alle anderen.

Wer in Römer 1, 26 – 27 die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen nach heutigem Verständnis sieht, ignoriert sowohl den Textzusammenhang als auch die zeitgeschichtliche Einordnung und die seither eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen, er leugnet die schöpfungsgemäße Einordnung von Geschlechtsverkehr in eine ganzheitliche Beziehung und verkehrt die Gesamtaussage des Textes ins Gegenteil. Sorgfältige, verantwortungsbewusste Bibelauslegung sieht anders aus.

Ein Appell

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Heute ist der Internationale Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie. Ich glaube, Homophobie im engeren Wortsinne ist mir bisher noch nicht begegnet, zumindest nicht unter Christen. Aber Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Angst und Hass. Deshalb möchte ich mich heute direkt an alle Christen wenden, die gleichgeschlechtliche Beziehungen ablehnen, weil sie überzeugt sind, dass sie nicht mit der Bibel vereinbar sind.

Ihr wollt nicht homophob genannt werden. Zurecht, denn es geht euch nicht um Angst und Hass, ihr seid entschieden gegen Gewalt und wollt auch nicht den § 175 wieder einführen. Ihr seid tolerant und gesteht anderen Menschen zu, selbst zu entscheiden, wie sie ihr leben führen wollen, auch in der Öffentlichkeit.

Es ist euer selbstverständliches Recht, eure Meinung, eure Überzeugung zu äußern, zu eurer Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu stehen, privat, in der Gemeinde und in der Öffentlichkeit. Aber gleichzeitig hat eure Überzeugung Konsequenzen, eure Worte und Taten haben Folgen, vor denen ihr die Augen nicht verschließen dürft.

Eure Überzeugung liefert das Brennmaterial für die Brandstifter in unserer Gesellschaft. Sie dient Homophoben als Rechtfertigung, sie ist der moralische Nährboden, den auch die Saat des Hasses und der Gewalt zum Wachsen braucht.

Eure Überzeugung würdigt Menschen herab. Die sexuelle Identität ist kein Anhängsel, das sich abschneiden lässt, keine Mode, die geändert werden kann. Sie ist integraler Teil der Persönlichkeit. Ihr lehnt keine Beziehungsmodelle oder Lebensstile ab, ihr lehnt Menschen ab.

Eure Überzeugung verlästert den Dienst der Christen. Ihr lasst Gott als engherzig und lieblos erscheinen, als einen Gott, der an Einhaltung von Regeln mehr interessiert ist als am Wohl und am Heil der Menschen. Ihr schreckt Menschen von Jesus ab und verschließt ihnen den Himmel.

Eure Überzeugung stürzt Menschen in Leid und Verzweiflung. Sie führt zu einem unauflöslichen Dilemma, das nicht selten ernsthafte psychische oder körperliche Probleme zur Folge hat, und im Extremfall treibt sie Menschen dazu, ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Als Christen steht ihr in der Verantwortung, die Folgen eurer Worte und eurer Taten zu bedenken. Auch die Nachfolge Jesu und die Treue zur Bibel entbindet euch nicht von dieser Verantwortung. Ich bitte euch deshalb: Informiert euch aus verschiedenen, unabhängigen Quellen. Hinterfragt eure Überzeugungen und lasst euch von anderen hinterfragen. Rechnet bei der Auslegung der Bibel mit eurer Fehlbarkeit und mit der Fehlbarkeit eurer geistlichen Vorbilder. Und ganz besonders: Nehmt das Leid der Menschen wahr und ernst. Sucht nicht nach Rechtfertigungen für dieses Leid, sondern sucht nach Wegen und Möglichkeiten, dieses Leid zu lindern oder zu beenden.

Ich weiß, eure Absichten sind nicht böse. Aber eure Überzeugungen haben böse Konsequenzen, eure Worte und Taten haben Böses zur Folge. Wendet euch ab von diesem Weg des Bösen und sucht von ganzem Herzen und mit all eurer Kraft nach neuen Wegen, nach Wegen der Nächstenliebe und des Heils, auch für Schwule und Lesben, für Bi- und Transsexuelle. Gott wird euch diese Wege finden lassen.

Danke.

Reality-Check

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Gott ist der perfekte Realist. Er sieht alles in der Welt genau so, wie es ist, und bei ihm gibt es keine Täuschung, keinen Irrtum und vor allem kein Wunschdenken. Das ist bei uns Menschen nicht so. Unsere Wahrnehmung wird von einer Vielzahl an Faktoren beeinflusst und sehr oft auch getrübt. Man muss sich nur mal ein paar optische Täuschungen anschauen, um zu erkennen, wie sehr der angeblich einfache Vorgang des Sehens von Erwartungshaltungen und Gewohnheiten beeinflusst wird.

Wenn wir Gott wirklich ähnlicher werden wollen, gehört es dazu, dass unser Blick auf die Welt realistischer wird, dass wir Irrtum und Wunschdenken zurückdrängen. Und das gelingt nicht ohne die Anerkennung und Anwendung dessen, was wir Wissenschaft nennen. Denn insbesondere die Natur- und Humanwissenschaften haben in den letzten Jahrhunderten ausgefeilte Verfahren hervorgebracht, die unsere menschlichen Schwächen zu kompensieren versuchen und einen weitgehend realistischen Blick auf Natur und Mensch ermöglichen.

Sie erfüllen damit den Auftrag Gottes an Adam. Denn in 1. Mose, Kapitel 2, steht vor dem bebauen und bewahren das benennen. Adam – und damit die gesamte Menschheit – ist beauftragt, den Tierarten ihre Namen zu geben, sie zu kategorisieren und einzuordnen. Wissen über die Natur ist nicht nur die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Gestalten und Schützen, es stellt auch einen Wert an sich dar. Gott sieht die Schöpfung, wie sie ist, und wir sollten zumindest versuchen, dem nahe zu kommen.

Damit erfüllen die Natur- und Humanwissenschaften nicht nur den Schöpfungsauftrag Gottes, sie beschäftigen sich auch indirekt mit Gott, denn Gottes Wesen und Gottes Willen sind in der Schöpfung offenbart, wie Paulus an die Römer schreibt. Dass sie dabei Gott außen vor lassen, steht dazu nicht im Widerspruch, denn es ist methodisch notwendig und praktisch bewährt. Die Loslösung von Bibel und Glauben hat den atemberaubenden Erfolg moderner Wissenschaften erst möglich gemacht.

Auf dieses Konzept der Gewinnung von Erkenntnissen hat die Christenheit häufig mit Skepsis oder sogar Ablehnung reagiert. Die Bibel als Wort Gottes stünde über der Wissenschaft, so die Argumentation, und wenn beide uneins sind, müsse die Bibel recht behalten. Die entscheidende Frage ist aber, warum sie überhaupt uneins sein sollten.

Beide, Theologie und Naturwissenschaft, beschäftigen sich mit Betrachtung, Auslegung und Systematisierung der Offenbarung Gottes. Bibel und Schöpfung sind zwei getrennte, dem Wesen nach sehr unterschiedliche Offenbarungen Gottes, aber sie kommen aus derselben Quelle, und so wie ich die Quelle kenne, können sie gar nicht im Widerspruch zueinander stehen. Wenn also die Natur- und Humanwissenschaften zu Erkenntnissen kommen, die anscheinend der Bibel widersprechen, dann hat sich mindestens eine Seite geirrt. Und ich sehe keinen Grund zu der Annahme, dass dies immer die Wissenschaften sein sollen.

Ich will keineswegs behaupten, dass die Wissenschaft immer Recht habe. Der natur- und humanwissenschaftliche Erkenntnisprozess verläuft langsam, geht häufig im Zickzack und manchmal auch Irrwege. Das in den Medien oft verbreitete Bild der Wissenschaft, die schlagartig bahnbrechende, neue Erkenntnisse beschert, ist ein Mythos. Aber der realistische Blick in die Vergangenheit zeigt eindeutig, dass die wissenschaftliche Methodik auf Dauer zu erstaunlichen Erfolgen führt, dass sie manchmal sehr bahnbrechende und unerwartete, häufig sehr belastbare und zutreffende Erkenntnisse hervorbringt. Und das Christen, die sich gegen diese Erkenntnisse gesträubt haben, sich im Rückblick regelmäßig ziemlich lächerlich gemacht haben.

Die allermeisten echten Wissenschaftler wissen um die konkreten Schwächen ihrer Theorien. Daran sollte man sich als Bibelausleger ein Vorbild nehmen. Der Konflikt entsteht meist erst dann, wenn man von der Unfehlbarkeit der Bibel auf die Unfehlbarkeit des Auslegers schließt. Das aber ist keine geistliche Position, das ist Überheblichkeit, das ist menschliche Hybris. Ein Bibelausleger, der wissenschaftliche Erkenntnis ignoriert oder gar als feindlich ansieht, beraubt sich damit nicht nur eines wichtigen Weges zur Erkenntnis Gottes, er beraubt sich damit auch eines wichtigen Korrektivs seiner eigenen Arbeit.

Es geht hier um Warnsignale, um Indizien, dass eine gewohnte Auslegung der Bibel falsch sein könnte und sie dringend gründlich überprüft werden müsste. Und wenn eine Bibelauslegung im krassen Widerspruch zur gefestigten wissenschaftlichen Meinung steht, dann müssten eigentlich für den sorgfältigen Bibelausleger sämtliche Warnglocken läuten, so dass man schon fast taub davon würde. Gott sieht die Schöpfung genau so, wie sie ist. Wenn wir das auch wollen, sollten wir alle Möglichkeiten menschlicher Erkenntnisfähigkeit nutzen. Und wenn wir das richtig gut machen, wird so etwas wie ein Widerspruch zwischen Wissenschaft und Bibel gar nicht erst auftreten.

Wo drückt der Schuh?

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Letzte Woche habe ich davon geschrieben, wie gefährlich Glaubensgrundsätze sein können. Trotzdem kommen wir nicht ohne sie aus. Es ist einfach nicht möglich bzw. würde uns völlig überfordern, ständig alle Glaubensfragen durch ausführliche, fundierte und gründliche Analyse der Bibel zu beantworten. Glaubensgrundsätze bieten nicht nur Halt und Sicherheit, sondern sind auch ein Gebot der Denkökonomie.

Deshalb die Frage in der Überschrift. Was stört mich gerade oder quält mich sogar? Wo werden meine Grundsätze und Überzeugungen zu einem Hindernis im Alltag, wo hindern sie mich daran, mich so zu bewegen, so zu sein, wie ich das eigentlich für richtig halte? Und natürlich: Welche meiner Überzeugungen stören oder gar quälen andere? Kurz: Wo drückt – mich und andere – der Schuh?

So ein Befund heißt natürlich nicht automatisch, dass diese Grundsätze und Überzeugungen falsch sind. Aber er ist ein deutliches Warnsignal, das nicht ignoriert werden darf. Und er ist ein Auftrag, die so befundenen Grundsätze bei nächster Gelegenheit einer gründlichen Nachprüfung zu unterziehen. Ich meine wirklich und ernsthaft bei nächster Gelegenheit. Und das schreibe ich an dieser Stelle vor allem für mich selbst, weil ich solche Überprüfungen viel zu oft auf die lange Bank schiebe, weil ich nicht gut genug darin bin, die nächste Gelegenheit auch wahrzunehmen.

Wenn der Schuh drückt, sollte man nachschauen warum, und sich nicht wegen eines Problems, das sich vielleicht beheben lässt, die Füße wund laufen. Wer seine Überzeugungen und Grundsätze nicht überprüft, wen sie weh tun, der läuft Gefahr, sich die Seele wund zu laufen, was ja viel schlimmer ist. Viele Schrammen und Schürfwunden an meiner Seele wären vermeidbar gewesen, wenn ich in der Vergangenheit gründlicher und konsequenter geprüft hätte. Es war Anfang 2015, als ich endlich erkannt habe, dass Gott einem wichtigen Teil meiner Persönlichkeit gar nicht ablehnt. Das Buch, das mir bei dieser Erkenntnis maßgebend geholfen hat, ist im Jahr 2001 erschienen.

Wohlgemerkt, ich schreibe immer noch von Warnsignalen, von Gründen, die eigene Überzeugung zu überprüfen. Ich schreibe nicht von Beweisen, dass diese Überzeugungen falsch seien. Das letzte Wort hat für mich immer noch die Bibel. Aber bevor ich hier noch ein Fass aufmache, was das in der Praxis heißt, komme ich noch mal zu den Warnsignalen zurück. Es gibt nämlich noch zwei weitere, die durchaus wichtig sind, die ich aber auch schon sehenden Auges ignoriert habe.

Das erste kommt aus der Frage, welches Gottesbild aus einer bestimmten Überzeugung, einer theologischen Position folgt. Ich habe hier schon davon geschrieben, wie mir Gott wie ein Gott der Willkür und der Trostlosigkeit erschien. Früher hätte ich das nicht so krass formuliert. Man muss aus einem Albtraum aufwachen, um zu erkennen, dass es ein Albtraum war. Aber wenn ich an die Krisen und Streitereien mit Gott zurückdenke, war mir eigentlich immer klar, das hier etwas ganz grundlegend nicht zusammen passt, dass der Gott, der meine sexuelle Orientierung ablehnt, ein ganz anderer Gott ist als der, den ich sonst so erlebe. Lange Zeit habe ich die Schuld bei mir selbst gesucht, bei meinem mangelnden Gehorsam, meiner mangelnden Bereitschaft zur Veränderung. Heute weiß ich: Das war die falsche Antwort, und ich hätte mich nicht mit ihr zufrieden geben dürfen.

Im wunderbaren Spielfilm Best Exotic Marigold Hotel sagt der junge, optimistische Hotelmanager Sonny:

Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.

Realistischerweise muss man dagegenhalten, dass nicht alles in dieser Welt gut endet, und dass Gott manches Happy End aufs Jenseits verschiebt. Aber wenn einem angeblich biblische Positionen derart das Gottesbild und die Beziehung zu ihm versauen, dann gibt es keinen Grund und keine Rechtfertigung, sich mit so einem „Ende“ zufrieden zu geben, dann ist das Ende der guten, geistlichen Erkenntnis noch nicht erreicht. Die Bibel ist dazu da, uns Gottes Größe zu zeigen. Wo sie das nicht tut, haben wir die Bibel noch nicht verstanden.

Und nun vom guten Film zur schlechten Serie, es folgt der Cliffhanger: Das letzte Warnsignal, von dem ich schreiben will, verdient eine ausführliche Darstellung und kommt deshalb nächste Woche.

Spiegeltest

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Jetzt sehen wir nur ein undeutliches Bild wie in einem trüben Spiegel. Einmal aber werden wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, doch einmal werde ich alles klar erkennen, so deutlich, wie Gott mich jetzt schon kennt.

So schreibt Paulus an die Korinther. Und so erlebe ich es auch.

Vor zwei Wochen habe ich darüber geschrieben, wie ich mich bei ProChrist im Jahr 1997 gefühlt habe. Es hat danach noch erschreckende 17 Jahre gedauert, bis ich endlich die Überzeugungen loswerden konnte, die mir Gott immer als einen Gott der Willkür und der Trostlosigkeit erscheinen ließen, erscheinen lassen mussten. Hinterher ist man immer schlauer, und es ist ebenso richtig wie nutzlos, dass ich auf Manches auch deutlich früher hätte kommen können. Aber wenn ich zurück denke, wird mir klar, dass es im Wesentlichen zwei Faktoren waren, die in Kombination den Weg zu neuen Erkenntnissen versperrt haben: Die Bibel und mein Glaube.

Ein fester Glaube ist natürlich eine tolle Sache. Aber Glaube ist eine Sekundärtugend: Er gewinnt seinen Wert nicht aus sich selbst, sondern aus dem Objekt des Glaubens, daraus, woran man glaubt. Der feste Glaube an eine Lüge ist schädlich, ist gefährlich. Und hier kommt Paulus ins Spiel: Woher wissen wir, dass das, an das wir glauben, es wert ist, dass wir daran glauben? Woher wissen wir, dass wir wirklich an biblische Wahrheiten und nicht an Zerrbilder eines minderwertigen Spiegels glauben?

Der Spiegeltest bezeichnet ein Experiment, bei dem Tieren ein Spiegel vorgehalten wird, um zu beobachten, ob sie sich selbst in ihrem Spiegelbild erkennen. Nur wenige Tierarten bestehen diesen Test.

Die Bibel verhält sich wie ein Spiegel. Wenn wir in sie hineinblicken, schauen auch immer unsere eigenen Überzeugungen, unsere eigenen Glaubensgrundsätze auf uns zurück. Dieses Spiegelbild zu erkennen, zu identifizieren und angemessen zu würdigen, gehört zu den schwierigsten (und wichtigsten) Aufgaben auf der Suche nach biblischen Wahrheiten. Der unvoreingenommene Blick auf das Wort Gottes fällt uns viel schwerer, als wir denken, viel schwerer, als wir uns eingestehen wollen.

Viele Bibelausleger bestehen diesen Spiegeltest nicht. Ich habe ihn auch oft nicht bestanden, im Bezug auf Homosexualität, aber auch im Bezug auf viele andere Fragen, die ich an die Bibel hatte. Und ich erkenne, dass ich ihn auch oft nicht bestehen wollte. Glaubensgrundsätze und feste Überzeugungen bieten Halt, bieten Schutz, gerade in Zeiten der Krise, ja der Verzweiflung. Und diesen Schutz infrage stellen, vielleicht aufgeben zu müssen, kann sehr beängstigend sein. Jedenfalls war es das für mich.

Aber was ist, wenn es gerade meine Überzeugungen sind, die mich in Krise und Verzweiflung gestürzt haben? Wenn ich mich daran gewöhnt habe, an etwas zu glauben, was nicht der Wahrheit entspricht? Und wenn ich in der Krise, in die mich diese Unwahrheit gebracht hat, mich nur noch fester, nur noch verzweifelter an meinem Glauben festhalte, weil mich Angst, weil mich Panik ergreift, auch noch den letzten Halt zu verlieren? Genau das ist mir passiert. Und ich habe mein Verhalten für eine Tugend gehalten.

Paulus beschreibt weiter vorne im 1. Korintherbrief eine bemerkenswerte Strategie:

Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten.

Und wir müssen uns mal wieder der Erkenntnis stellen, das alles, was an die Stelle Christi treten will, ein Götze ist. Und das schließt auch Glaubensgrundsätze (selbst richtige) und sogar die Bibel mit ein. Wir sehen nur das undeutliche Bild im trüben Spiegel. Aber Gott kennt uns durch und durch. Er ist der Einzige, der ein unverfälschtes Bild hat. Er muss das Objekt unseres Glaubens sein.

Leider ist Jesus Christus, der Gekreuzigte, so viel schwerer fassbar als Grundsätze und Überzeugungen, und deshalb fühlt sich der Glaube allein an ihn oft so viel weniger nach Halt und Sicherheit an, zumindest für mich. Dabei sollte ich es nach all dem, was ich erlebt habe, viel, sehr viel besser wissen. Und hier kommt doch noch die Tugend des Glaubens ins Spiel, hier ist ein Glaube, an dem mit aller Kraft festzuhalten sich wirklich lohnt.

Es irrt der Mensch, solang er strebt. Damit hat Goethe recht und Paulus liefert die Begründung dazu. Dennoch halte ich Glaubensgrundsätze und Überzeugungen nicht für unwichtig oder gar überflüssig. Sie haben zurecht ihren festen Platz in meinem Leben und in meinem Glauben. Wie ich versuche, mit diesem Widerspruch umzugehen, davon möchte ich nächste Woche schreiben.