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Schlagwort-Archive: Bibel

Juda und Tamar, Teil 1

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Auch wenn die Bibel Homosexualität im heutigen Sinne gar nicht behandelt, ist sie doch voll von Aussagen über Sexualität und den Umgang damit. Aber diese Aussagen werden vor einem Hintergrund ethischer Werte und philosophischer Vorstellungen gemacht, den wir heute (völlig zurecht) nicht mehr teilen, der aber für eine Auslegung, die dem Text gerecht wird, berücksichtigt werden muss.

Das ist gerade im Neuen Testament besonders schwierig, weil dieser Hintergrund selten explizit genannt wird. In den Evangelien werden Begegnungen mit Jesus erzählt, meist als sehr kleiner Ausschnitt aus einer größeren Lebensgeschichte, von der wir höchstens bruchstückhaft erfahren. Die Briefe enthalten konkrete Anweisungen und Richtlinien für konkrete Situationen – Situationen, die nicht explizit genannt werden müssen, weil sie den Empfängern ja wohlbekannt sind. Das richtige Verständnis neutestamentlicher Sexualethik setzt also Wissen voraus, das aus dem Text selbst nicht gewonnen werden kann.

Das Alte Testament erzählt uns dagegen häufig eine vollständige Geschichte. Der ethisch-philosophische Hintergrund unterscheidet sich zwar noch stärker als im Neuen Testament von unseren Auffassungen heute, ist aber oft deutlicher im Bibeltext selbst zu erkennen und herauszulösen. Ich möchte das mal an der Geschichte von Juda und Tamar versuchen, die in 1. Mose 38 zu finden ist.

Kurz zum Inhalt: Tamar ist die Ehefrau von Judas ältestem Sohn Ger, der jedoch (wegen nicht näher genannten Verstößen gegen den Willen Gottes) vorzeitig und kinderlos stirbt. Nach damaligem Recht bekommt Tamar Gers nächst jüngeren Bruder Onan zum Mann. Dieser verhütet aber durch unterbrochenen Beischlaf, was Gott überhaupt nicht gefällt, weswegen auch er kinderlos stirbt. Als nächster wäre Judas jüngster Sohn Sela dran, aber der ist noch zu jung für die Ehe. Tamar muss erst mal warten.

Nach ein paar Jahren Wartezeit wird klar, das Juda (entgegen geltenden Rechts) nie die Absicht hatte, Sela mit Tamar zu verheiraten. Tamar erfährt, dass Juda, mittlerweile selbst Witwer, zwecks Schafschur unterwegs ist. Sie verhüllt sich, verkleidet sich als Prostituierte und setzt sich an einen Ort, an dem auch Juda erwartet wird. Er schläft auch tatsächlich mit ihr, muss ihr aber unter anderem sein Siegel als Pfand da lassen, da er die versprochene Bezahlung (einen Ziegenbock) nicht zur Hand hat.

Tamar verhindert die Übergabe dieser Bezahlung und behält das Siegel. Als offensichtlich wird, dass sie schwanger ist, soll sie wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs hingerichtet werden, aber mit dem Siegel kann sie beweisen, das Juda der Vater ist. Juda erkennt an, dass Tamar richtig gehandelt hat, weil es Unrecht war, ihr seinen Sohn Sela zu verweigern.

Ich denke, als erstes stolpert der moderne Leser über das Institut der Schwagerehe. Dass eine kinderlose Witwe den nächst jüngeren Bruder ihres verstorbenen Mannes heiraten soll, ist aus heutiger Sicht völlig unverständlich, damals aber geltendes Recht, für das es drei aus damaliger Sicht durchaus nachvollziehbare Gründe gibt:

  • Als erstes geht es um das Erbrecht: Vererbt wird über den ältesten Sohn, und wenn dieser keine Nachkommen hat, ist die Situation unklar und kann zu Streit und Entzweiung in der Sippe führen. Das Ganze ist im Volk Israel von besonderer Wichtigkeit, da hier auch die Landzuteilung an die Stämme durcheinander geraten könnte, die ja geradezu Verfassungsrang hat. In der Schwagerehe ist diese Situation geklärt, weil der erste Sohn aus dieser Ehe als Sohn in erstgeborener Linie gilt.
  • Zweitens spielt der Schutz der Witwe eine große Rolle, denn nach dem Tod ihres Mannes ist sie weder reguläres Mitglied ihrer Herkunftsfamilie, noch der Familie ihres verstorbenen Mannes. In einer Kultur, in der nicht nur das soziale, sondern auch das materielle Überleben einer Frau von ihrer Zugehörigkeit zu einem Familienverband abhängig war, sorgte die Schwagerehe dafür, dass die Witwe weiterhin Teil der Familie ihres verstorbenen Mannes bleiben konnte.
  • Schließlich bestimmte sich Wert und Selbstwert einer Frau in der damaligen Kultur sehr stark anhand ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären. Für eine Frau bedeutete eine kinderlose Ehe eine starke Abwertung. Die Schwagerehe gab ihr die Möglichkeit, diesen Makel auszugleichen.

Noch viel schlimmer als die Schwagerehe empfinde ich die ungleiche Behandlung von Juda und Tamar. Beide waren verwitwet, als sie außerehelichen Sex hatten. Für Juda schien das völlig normal zu sein. Tamar hätte ihren gewagten Plan nicht gefasst, wenn sie nicht davon ausgegangen wäre, dass Juda die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen würde. Das war offensichtlich bekannt und gesellschaftlich anerkannt. Juda hätte auch nicht einen Freund mit der Bezahlung beauftragt, wenn er die Tatsache an sich hätte verheimlichen wollen. Er sorgte sich zwar um seinen Ruf, aber nicht weil er Sex mit einer Prostituierten hatte, sondern weil er sie nicht gerecht bezahlen konnte.

Ganz anders bei Tamar: Obwohl in der gleichen Lebenssituation wie Juda stand bei ihr auf außerehelichen Geschlechtsverkehr die Todesstrafe, und zwar weil sie eine Frau war. Diese Ungleichbehandlung ist für uns heute kaum erträglich, hat aber ihre Ursache in der antiken Sicht von Mann und Frau. In einem verbreiteten Vergleich wurde der Mann als Gärtner und die Frau als Garten angesehen. Der Vergleich war durchaus als Wertschätzung der Frau gedacht, weil sie als Trägerin und Bewahrerin ihres Gartens einen besonderen Wert besaß, den Männer nicht hatten. In der Praxis führte dieser Gedanke aber zu der erwähnten Ungleichbehandlung.

Wenn der Mann in einem fremden Garten gärtnert, fügt er nämlich dem eigenen Garten keinen Schaden zu. Und wenn der andere Garten noch einer Prostituierten gehört, ist nach damaliger Vorstellung auch da kein schützenswertes Gut geschädigt worden. Wenn eine Frau aber einen anderen Gärtner in ihren Garten lässt, wird dieser dadurch verunreinigt und entwertet. Für die Zerstörung dieses ihr anvertrauten, hohen Gutes war eine entsprechend harte Strafe vorgesehen. Besonders deutlich wird dies in den unsäglichen Vergewaltigungsgesetzen in 5. Mose 22: Grundsätzlich gibt es dort nur drei Kategorien von Frauen: verheiratete Frauen, verlobte Jungfrauen und nicht verlobte Jungfrauen. Eine Frau, die weder verheiratet noch Jungfrau war, galt offensichtlich nicht als schützenswert, ihr Garten war nach damaliger Ansicht ja sowieso schon quasi verwildert. Bei nicht verlobten Jungfrauen (also wenn kein anderer Mann „geschädigt“ wird) kann eine Vergewaltigung dadurch gesühnt werden, dass der Täter das Opfer heiratet. Das ist nur begreiflich, wenn man der Frau selbst keinen eigenen Wert zumisst, und sie nur noch als Trägerin und Bewahrerin ihres „Gartens“ begreift.

So menschenverachtend das für uns heute auch klingen mag: Dieses Gedankengut ist offensichtlich für die damalige Zeit selbstverständlich gewesen und bildete die Grundlage ethischer Bewertung in der Bibel. Und dieses Gedankengut ist ebenso offensichtlich erst einmal herauszulösen und abzuschälen, wenn in der Bibel von Sexualität die Rede ist, und zwar nicht nur an dieser Stelle, sondern definitiv überall im Alten Testament und mit Einschränkungen auch im Neuen Testament. Ohne diese Betrachtung ist jede Exegese zu diesem Thema wertlos.

Was bleibt dann von so einem Text übrig, was für uns heute anwendbar wäre? Darüber schreibe ich beim nächsten Mal.

 

Bibel-Positivismus

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Eine der philosophischen Grundlagen des modernen Rechtsstaats ist der Rechtspositivismus. Er besagt, kurz gesagt, dass Recht ist, was im Gesetz steht, und nur was im Gesetz steht, und zielt damit in erster Linie auf Rechtssicherheit: Jeder kann (im Prinzip) selbst nachlesen, was erlaubt ist, und was ihn erwartet, wenn er sich nicht daran hält. Der Rechtspositivismus schützt vor Willkür und fördert, dass alle Menschen dem Recht nach gleich behandelt werden. Er hat aber auch Grenzen. Das hat man am Ende des zweiten Weltkriegs festgestellt, denn die unfassbaren Verbrechen der Nazis waren häufig durch die Gesetze gedeckt.

Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch formulierte deshalb im Jahr 1946, dass auch entgegen geltender Gesetze entschieden werden müsse, wenn ihre Anwendung unerträglich ungerecht wäre oder wenn sie selbst die Grundzüge des Rechts verleugnen würden. Diese Radbruch’sche Formel klingt ziemlich unbestimmt, sie stellt, auf Fälle schlimmsten Unrechts begrenzt, zwar die alte Unsicherheit und die Gefahr der Willkür wieder her, ist aber eine offensichtlich notwendige Einschränkung des Rechtspositivismus und damit bis heute Bestandteil der Rechtssprechung der obersten Gerichte.

Warum ich das so ausführlich schildere? Weil viele Christen die Bibel genauso behandeln wie der Rechtspositivismus das Gesetz: Christliche Lehre ist, was in der Bibel steht, und nur, was in der Bibel steht. So wie der Jurist die Antworten zu allen Rechtsfragen im Gesetz suchen muss, suchen diese Christen die Antworten zu allen Glaubens- und Lebensfragen in der Bibel. Analog zum Rechtspositivismus kann man diese Haltung als Bibel-Positivismus bezeichnen, und Google sagt mir, dass ich nicht der erste bin, der diesen Begriff in diesem Sinne gebraucht.

Das Problem am Bibel-Positivismus: Er funktioniert nicht. Die Bibel ist kein Gesetzestext. Das merkt man, wenn man sich moderne Gesetzestexte anschaut: Sie sind bewusst mit der notwendigen Eindeutigkeit und der dazu leider auch oft notwendigen Fachsprachlichkeit formuliert. Gesetzestexte sind selten schön zu lesen, weil sie nicht schön zu lesen sein sollen, sondern weil sie im Sinne des Rechtspositivismus einen genau bestimmten Zweck erfüllen wollen und dazu in erster Linie eindeutig und bestimmt sein müssen.

Bibeltexte genügen diesen Ansprüchen grundsätzlich nicht. Die Bibel besteht in großen Teilen aus Erzählungen und aus Geschichtsschreibung, zwei Literaturgattungen, die wir heute streng unterscheiden, die aber in der Antike wesentlich näher beieinander lagen, und die beide für eine positivistische Auslegung ungeeignet sind. Andere Texte liefern konkrete Handlungsanweisungen, beziehen sich aber meist auf ebenso konkrete Situationen oder spezifische Probleme, so dass ihnen die nötige Allgemeingültigkeit fehlt, die für eine positivistische Auslegung erforderlich ist. Und für die Stellen im Alten Testament, die tatsächlich Gesetzesrang für sich beanspruchen, macht das Neue Testament sehr deutlich, dass sie mit diesem Anspruch für uns heute nicht mehr gültig sind.

Der Bibel-Positivismus legt die Bibel in einer Weise aus, für die sie weder gedacht noch geeignet ist. Er führt zuweilen durchaus zu richtigen Ergebnissen, aber ebenso oft in die Irre und nicht selten zu schlimmen Konsequenzen. Und die werden oft noch viel schlimmer, weil die Bibel-Positivisten kein theologisches Äquivalent zur Radbruch’schen Formel gelten lassen. Statt im unerträglichen Unrecht die Grenzen ihrer Bibelauslegung zu erkennen, wird das Unrecht zum Recht erklärt, weil es sich ja angeblich aus der Bibel ergibt. Beispiele, wie mit der Bibel in der Hand schlimmstes Unrecht begangen wurde, gibt es zu Genüge. Gerade geistlicher Missbrauch geschieht nicht selten mit biblischer Begründung.

Viele Bibel-positivistisch eingestellte Christen erinnern mich auch in ihrem Verhalten nicht an moderne, sorgfältig abwägende Juristen, sondern eher an klassische Westernhelden; der Typus, der schneller zieht als sein Schatten, nur halt nicht den Revolver sondern die Bibel, und der Bibelstellen statt Bleikugeln locker aus der Hüfte feuert. Übrigens trägt der klassische Westernheld auch immer einen weißen Hut, damit man ihn auch noch in der letzten Kino-Reihe leicht vom Bösewicht mit dem schwarzen Hut unterscheiden kann. Womit wir beim Kernproblem des Bibel-Positivismus angelangt sind: Es geht nicht um Recht und Unrecht, sondern um Gut und Böse. Und mit der Bibel In der Hand darf sich der Bibel-Positivist auf der Seite des Guten wähnen und es gegen das Böse verteidigen.

Wir leben aber nicht im Wilden Westen, Gott sei Dank. Denn der klassische Western ist ein guter Ort für Geschichten, aber war ein fürchterlicher Ort zum Leben. Dass Meinungsverschiedenheiten nicht mehr von Revolverhelden, sondern von Juristen und Gerichten geklärt werden, ist außerhalb von Literatur und Film ein gewaltiger Fortschritt. Der Bibel-Positivist wünscht sich in eine Zeit, in der Gut und Böse klar getrennt und einfach unterscheidbar sind, und übersieht, dass es eine solche Zeit außerhalb von Karl-May-Büchern nie gegeben hat.

Unsere Gesellschaft verändert sich rapide. Erklärung und Anerkennung der Menschenrechte, Ächtung des Krieges als Mittel der Politik und auch die Abschaffung der Todesstrafe in vielen Ländern sind vergleichsweise junge Entwicklungen, und selbst die Abschaffung und Ächtung der Sklaverei liegt zeitlich viel näher zu uns als selbst zu den jüngsten biblischen Texten. Das macht die Auslegung und Anwendung der Bibel für uns bedeutend schwieriger als für frühere Generationen. Andererseits ist heute ein Bildungsniveau selbstverständlich geworden, das früher nur gesellschaftlichen Eliten zugänglich war. Wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.

Leider hat der Bibel-Positivismus es geschafft, sich das Etikett bibeltreu anzuheften; eine Zuschreibung, die zwar gelegentlich abwertend verwendet, aber meist nicht in Zweifel gezogen wird. Ich halte das für falsch. Treue zur Bibel zeigt sich in der intensiven, auch kritischen Auseinandersetzung mit der Bibel, mit ihren zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Randbedingungen, mit Reichweite und Selbstverständnis biblischer Texte, mit Textzusammenhang und heilsgeschichtlichen Linien. Wer Christ ist, muss – im Rahmen seiner Möglichkeiten – immer auch ein kleiner Theologe sein.

Dem gegenüber steht der positivistische Gebrauch der Bibel, der die Bibel zitiert statt auslegt, der Antworten findet auf Fragen, die in der Bibel gar nicht behandelt werden, der die Bibel nicht als Offenbarung erforscht, sondern als Werkzeug gebraucht, der allzu häufig in der Beschäftigung mit Randfragen die Mitte der Schrift verliert. Der Bibel-Positivismus ist ein Missbrauch der Schrift, der die Gefahr des geistlichen Missbrauch von Menschen wesensmäßig in sich trägt. Eine solche Haltung ist nicht bibeltreu und sollte auch nicht so genannt werden.

Beweislast

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Vor Gericht und auf hoher See, so sagt der Volksmund, ist man in Gottes Hand. Im ersten Fall gilt das besonders, wenn Aussage gegen Aussage steht. Da kann es für das Urteil entscheidend sein, welche der beiden Parteien die Beweislast trägt, d. h. welche Seite ihre Version beweisen muss, um zu einem günstigen Urteil zu kommen.

In den letzten drei Einträgen habe ich mich mit dem biblischen Ehebild beschäftigt. Um meine Ergebnisse kurz zusammenzufassen: Ja, es gibt in der Bibel ein unterschiedliches Rollenverständnis von Mann und Frau, und nein, dieses Rollenverständnis wird nicht als essenzieller Bestandteil der Ehe gelehrt, sondern ist vielmehr Spiegel der damaligen, gesellschaftlichen Verhältnisse. Ist das nun gut oder schlecht für die biblische Sicht gleichgeschlechtlicher Ehen? Das hängt nicht zuletzt von der Beweislast ab.

Die Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe stellen ihre Position ja häufig als eine biblische Selbstverständlichkeit dar und tun so, als ob es Unmengen von Bibelstellen gäbe, die ihre Position stützen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich mich in diesem Blog mit angeblich heteronormativen Bibelstellen auseinandergesetzt habe. Bisher ist noch jede dieser angeblich so offensichtlichen Bibelauslegungen bei genauerem Hinsehen in sich zusammengebrochen, hat sich als exegetische Luftblase herausgestellt. Auf fehlerhaft ausgelegten Bibelstellen lässt sich niemals eine theologische Aussage gründen, und seien es auch noch so viele.

Trotzdem verfehlt die Anzahl nicht ihre Wirkung: Aus dutzenden halb verstandenen Bibelstellen erhebt sich die gefühlte theologische Wahrheit in all ihrem Glanz und ihrer Blendwirkung. Man kann, ja man muss nun gegen jede einzelne dieser Fehlauslegungen vorgehen, muss der oberflächlichen Auslegung exegetische Gründlichkeit entgegenhalten, muss Argumentationsfehler aufdecken und Voreingenommenheit entlarven. Ich möchte das in diesem Blog auch weiterhin tun. Trotzdem bleibt es eine Sisyphusarbeit.

Gegen eine gefühlte Wahrheit kommt man nicht mit Einzelargumenten an, denn selbst wenn man jedes einzelne Argument widerlegt, bleibt beim Gegner das Gefühl zurück, dass es da ja noch sooo viele andere Bibelstellen gibt. Wenn das Gefühl durch jahrzehntelanges Training fest verankert ist, haben Fakten wenig Chancen. Und zu guter Letzt kommen dann noch die drei wichtigsten christlichen Argumente: Das war schon immer so. Das war noch nie so. Da könnte ja jeder kommen. Meist noch gepaart mit der unter vielen Christen üblichen Zeitgeist-Phobie, dass alles Neue grundsätzlich schlecht und gefährlich ist.

Wieso eigentlich? Es gibt doch jede Menge Beispiele, wie Prinzipien, die in der Bibel ganz selbstverständlich sind, durch neue Erkenntnisse und Ideen als überholt gelten und durch etwas viel besseres ersetzt wurden. Aussatz beispielsweise bedeutete zu biblischen Zeiten eine massive Ausgrenzung aus der Gesellschaft, Heilung war die absolute Ausnahme. Heute können wir zwischen ansteckenden und nicht ansteckenden Krankheiten unterscheiden. Und selbst bei den ansteckenden Krankheiten wie Lepra gibt es Verfahren zum sicheren Umgang mit den Kranken und vielfach auch Heilungsmöglichkeiten. Wir verletzen das in der Bibel gelehrte Prinzip der Ausgrenzung Aussätziger und sehen das als Fortschritt.

Ein anderes Beispiel: Die biblische Antwort auf Überschuldung war die Schuldsklaverei. Im Alten Testament gibt es Vorschriften, die dieses Übel in ihren Auswirkungen mildern sollen, trotzdem wird das Prinzip der Schuldsklaverei auch in der Bibel gelehrt, mal ganz abgesehen davon, dass das im Alten Testament vorgeschriebene Erlassjahr wahrscheinlich nie wirklich umgesetzt wurde. Heute tatsächlich umgesetzte und gelebte Rechtspraxis ist die Privatinsolvenz, die nach Einhaltung der entsprechenden Auflagen eine Befreiung von der Restschuld und einen wirklichen Neuanfang ermöglicht. Hier wurde der biblische Grundgedanke vollständig von den damaligen Randbedingungen und Ausführungsbestimmungen gelöst und zu einer viel besseren, christlicheren Lösung weiterentwickelt.

Die Situation sexueller Minderheiten im christlich geprägten Teil der Welt erfährt offensichtlich eine ähnliche Entwicklung. Eine Jahrtausende alte Tradition der Ablehnung und Ausgrenzung wird durch neue Ideen und Erkenntnisse überflüssig. Schwule und Lesben lernen, ihre Beziehungen nach den gesellschaftlichen, teilweise auch nach den biblischen Maßstäben der Ehe zu führen, und die Gesellschaft lernt, diese Beziehungen auch tatsächlich als Ehen anzuerkennen, zu schützen und zu fördern. Neue medizinische Möglichkeiten helfen transgeschlechtlichen Menschen, sich in ihrer Haut wohl zu fühlen, wohingegen Intersexuelle nicht mehr medizinisch oder rechtlich auf ein Geschlecht festgelegt werden, lange bevor sich geschlechtsspezifische Persönlichkeitseigenschaften zeigen könnten.

Es ist schwer zu begreifen, wieso ein Christ sich über diese wunderbare Entwicklung nicht von Herzen freuen sollte. Unzählige Menschen erzählen davon, wie sie durch Annahme ihrer sexuellen Identität freier und glücklicher geworden sind. Die Christen unter ihnen fügen hinzu, wie sich ihre Beziehung zu Gott vertieft hat. Der Segen dieser gesellschaftlichen Entwicklung ist unübersehbar. Derweil erweisen sich die christlichen Heilsversprechen mehr und mehr als Täuschung und Lüge. Robert L. Spitzers viel fehlzitierte Studie von 2001 hat nie eine Veränderbarkeit der sexuellen Orientierung in nennenswertem Umfang belegt und wurde längst vom Autor wegen methodischer Mängel zurückgezogen. Und Exodus International, die weltgrößte Organisation der Ex-Gay-Bewegung hat sich schon 2013 aufgelöst – wegen erwiesener Erfolglosigkeit und Schädlichkeit der propagierten Therapieansätze.

Es ist höchste Zeit für eine Umkehrung der Beweislast: Die Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe müssen klar und überzeugend biblisch belegen, warum sie an einer Position festhalten, die viele betroffene Menschen erwiesenermaßen unglücklich und einsam werden lässt, nicht selten in seelische und körperliche Erkrankungen und gelegentlich sogar in den Selbstmord treibt. Die Faktenlage ist eindeutig. Eine theologische Position, die Menschen mit Gott und mit sich selbst versöhnt, die es diesen Menschen ermöglicht, in der Verantwortung vor Gott und im Dienst für ihn ein erfülltes Leben zu führen, braucht keine ausführliche biblische Begründung. Sie trägt ihre Begründung in sich selbst, in ihren Werken, in ihrer Wirkung. Wer theologische Positionen vertritt, die Menschen sehenden Auges in Unglück und Einsamkeit stürzen, dem darf, dem muss auch eine biblische Begründung auf höchstem fachlichen und exegetisch-handwerklichen Niveau für seine Thesen abgefordert werden. Nicht die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare muss biblisch begründet werden, sondern ihre Ablehnung.

Homosexualität ist …

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Vor ein paar Wochen schrieb mir ein sehr guter Freund: „Ich finde einfach mehr Argumente die nicht für eine Vereinbarkeit von Homosexualität und Bibel sprechen (…).“ Es sind Sätze wie diese, die einem schwulen Christen immer wieder begegnen: „Homosexualität ist nicht mit der Bibel vereinbar.“ Oder in der schärferen Form: „Homosexualität ist Sünde.“ Ich möchte heute nicht auf die biblische Seite eingehen, die in diesen Sätzen mitschwingt. So weit komme ich gar nicht, denn wenn ich solche „Antworten“ sehe, kann ich nur mit Loriot bzw. Evelyn Hamann ausrufen: „Da regt mich ja die Frage schon auf!“

Homosexualität ist ein Oberbegriff für eine Gruppe sehr unterschiedlicher Phänomene. Ohne zu erklären, was hier genauer gemeint ist, entbehren solche Sätze erst mal völlig jeder Aussagekraft. Meint der Schreiber die sexuelle Orientierung, will er stattdessen etwas über sexuelle Handlungen aussagen oder über erotische oder romantische Gefühle? Redet er von der Beziehung zweier Menschen, und wenn ja, von welcher Art von Beziehung? Oder hat er homosexuelles Verhalten bei Tieren im Blick, dafür gibt es bekanntlich ja auch jede Menge Beispiele. Je nachdem, welche Teilbedeutung man einsetzt, kommt jeweils eine völlig andere Aussage heraus. Die wahre Bedeutung bleibt rätselhaft.

Doch eine Aussage ist in solchen Sätzen tatsächlich immer vorhanden, nämlich die über die Fachkompetenz des Äußernden: Sie ist offensichtlich nicht in annähernd ausreichendem Maße vorhanden. Es ist doch selbstverständlich, dass bei jeder Form moralischer Wertung deutlich zwischen der Persönlichkeit, den Gefühlen und den Handlungen eines Menschen unterschieden werden muss. Wer den Begriff Homosexualität, der ja alle drei Bereiche umfasst, als Ganzes einer Wertung zu unterziehen, macht deutlich, dass ihm zu einem Werturteil in dieser Frage jegliche Grundlage fehlt.

Trotzdem hört und liest man diese Sätze immer wieder. Was macht man nun mit den Menschen, die so einen offensichtlichen Unsinn von sich geben? Ich glaube, ignorieren wäre die beste Lösung. In den meisten Fällen können diese Menschen einfach nicht erkennen, wie wenig sie wirklich über Homosexualität wissen. Wenn man noch bedenkt, wie viele Klischees, Gerüchten und leider auch Lügen auch von christlichen Führungspersönlichkeiten zu diesem Thema quasi als biblische Wahrheit verbreitet werden, entsteht hier leicht, gerade bei Heteros, ein Gefühl scheinbarer Kompetenz, das dann zu den eingangs erwähnten, sinnfreien Aussagen führt.

Zum Glück lassen eben diese Aussagen leicht erkennen, dass der Äußernde nicht wirklich weiß, wovon er spricht, so dass man getrost die Ohren auf Durchzug schalten kann. Aus dem Mund, der einen derartigen Unsinn äußert, ist zum gleichen Thema nicht mit Weisheit zu rechnen. Und mit den Ohren auf Durchzug bleibt der Raum dazwischen schön frei für die netten, liebevollen und oft sehr weisen Sachen, die diese Menschen vielleicht zu anderen Themen zu sagen haben.

Wenn es denn so einfach wäre. Mir fällt dieses Ignorieren regelmäßig sehr schwer, gerade wenn solche Aussagen von Menschen kommen, die ich ganz besonders schätze, denn im Grunde sind diese Aussagen zutiefst verletzend. Wenn der Begriff Homosexualität ohne Zusätze verwendet ist, ist heute normalerweise die sexuelle Orientierung gemeint, die Teil der sexuellen Identität und damit Teil der Persönlichkeit ist. Und deshalb: Wenn jemand „Homosexualität ist nicht mit der Bibel vereinbar.“ sagt, höre ich zwangsläufig: „Deine Persönlichkeit ist nicht mit der Bibel vereinbar.“ Oder kurz: „Du bist nicht mit der Bibel vereinbar.“

Solche Aussagen sind abwertend und entwürdigend, sie stellen meinen Wert als Person infrage, und ich bringe es einfach nicht fertig, sie zu ignorieren, gerade wenn sie von sehr guten Freunden kommen. Auch wenn ich weiß, dass diese Abwertung meiner Person nur fahrlässig aus Inkompetenz geschieht, werden da bei mir leider sehr unchristliche Gefühle geweckt. Ich bin regelmäßig nicht nur verletzt, sondern auch wütend und stinksauer. Um es recht drastisch auszudrücken: Meine geschundene Seele verlangt nach Vergeltung.

Wie gesagt, das sind sehr unchristliche Gefühle. Die richtige Antwort wäre Vergebung. Sie wäre nicht nur „Christenpflicht“, sie wäre auch der Situation angemessen und würde nicht zuletzt auch mir selbst gut tun. Sie hätte mir manche durch Wut und Ärger schlaflose Nacht erspart. Dass es mir trotzdem immer noch in solchen Situationen so schwer fällt zu vergeben, zeigt vor allem, wie viel ich hier noch zu lernen habe.

Ich möchte solche Sätze wie „Homosexualität ist nicht mit der Bibel vereinbar.“ nicht verharmlosen. Wer andere Menschen verletzt, weil er Werturteile zu Themen abgibt, von denen er offensichtlich keine Ahnung hat, der sündigt. Meine verletzten Gefühle allerdings haben ihre Ursache nicht in diesen Sünden, sondern in meinem Umgang damit. Wie Eleanor Roosevelt einst sagte: „Niemand kann dir, ohne deine Zustimmung, das Gefühl geben, minderwertig zu sein.“

Ménage-à-trois

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Wenn man als Christ für gleichgeschlechtliche Ehen ist, wird einem oft das Dammbruch-Argument entgegengehalten: Eine Erweiterung des heteronormen Ehebegriffs würde die Ehe für alle möglichen Formen von Beziehungen geöffnet, sie würde völlig ihren Charakter verlieren, und es gäbe ethisch und moralisch gar keinen Halt mehr. Es ist natürlich richtig, dass sich die Vielfalt der gesellschaftlich akzeptierten Beziehungsmodelle in den letzten Jahren erheblich erweitert hat. Man kann darin einen Werteverfall erkennen. Ich persönlich sehe darin eher ein Werteverschiebung mit positiven und negativen Aspekten, aber das soll heute nicht das Thema sein.

Ich bin nämlich über Facebook auf diesen Artikel zu einer schwulen Dreierbeziehung hingewiesen worden. Ich will mich einmal daran versuchen, inwieweit mir als theologischem Laien auf die Schnelle eine biblische Beurteilung eines solchen Beziehungsmodells gelingt.

Die Bibel kennt Dreiecksbeziehungen (wie alle Beziehungen) nur in der heterosexuellen Form, und auch da nur in der Kombination: ein Mann, mehrere Frauen. Gerade in der stark patriarchalischen Gesellschaft zur Zeit des Alten Testamentes waren solche Beziehungen nicht nur geduldet, sondern vielmehr durchaus üblich und erlaubt, auch im Volk Gottes. Insgesamt zeigt gerade der Blick ins Alte Testament auch, dass das biblische Modell der Ehe sich auch durch gesellschaftliche Realitäten formt, dass es neben dem unveränderlichen, in den Menschen hineingeschaffenen Kern (Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.) eine erhebliche Variationsbreite dessen gibt, was in der jeweiligen Gesellschaft noch Teil des biblischen Ehemodells sein kann oder auch nicht.

Die im verlinkten Artikel vorgestellte Dreierbeziehung unterscheidet sich in zumindest einem wichtigen Punkt von der klassischen, heterosexuellen Vielehe. Letztere ist nämlich keine echte Dreiecksbeziehung, sondern stellt vielmehr ein V dar: Die Frauen führen die Beziehung nicht untereinander, sondern nur jede für sich mit ihrem Mann. Dagegen kann eine Dreierbeziehung mit bi- oder homosexuellen Beteiligten ein echtes Dreieck darstellen: Jeder liebt jeden. Man könnte argumentieren, dass diese Beziehung damit weiter von der Einehe entfernt ist, weil sie das eins-zu-eins-Prinzip stärker durchbricht. Man könnte aber auch sagen, dass sie näher am biblischen Ehemodell dran ist, weil sie die gegenseitige Liebe und Treue aller Partner untereinander ermöglicht. Ich tendiere persönlich zur zweiten Ansicht, möchte mich da aber nicht festlegen.

Angesichts der Vielzahl der Mehrehen im Alten Testament komme ich nur schwerlich zu einem strengen Verbot von Dreierbeziehungen. Es gibt aber zahlreiche Hinweise, dass sie einfach keine gute Idee ist, und dass man besser die Finger davon lassen sollte. Die Vielehen in der Bibel laufen allesamt nicht sehr gut und führen zu zahlreichen Problemen und Verwicklungen. Selten ist jemand glücklich mit so einer Konstellation, zumeist ist sie aus der Not geboren oder beruht von vornherein auf Fehlentscheidungen. Das heißt zumindest einmal, dass die Motive zum Eingehen einer Dreierbeziehungen genau hinterfragt werden sollten.

Im Neuen Testament ist die Ablehnung der Vielehe schon recht deutlich. Paulus hält sie unter anderem für nicht vereinbar mit der Vorbildfunktion eines Gemeindeleiters. In der Gesamtheit stellt sich die Ehe mit mehr als zwei Beteiligten für mich eher als Ausnahme zur Regel denn als Erweiterung der Regel dar. Sie ist ein vertretbarer Kompromiss, wenn es die gesellschaftlichen Verhältnisse erfordern, bringt aber meist mehr Schaden als Nutzen, mehr Fluch als Segen.

Hier liegt der wesentliche Unterschied zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Ich habe es bereits früher schon einmal geschrieben, für mich liegt auf der Ehe ein besonderer Segen Gottes, der allen zuteil wird, die die eheliche Beziehung nach Gottes Maßstäben leben und gestalten. Die gleichgeschlechtliche Ehe öffnet diesen Segen Gottes für Menschen, die ihn sonst nicht erleben könnten, sie vermehrt den Segen Gottes in der Welt. In einer Dreierbeziehung hingegen sehe ich keinen Segen Gottes, der auf anderem Wege nicht erreichbar wäre. Dafür gibt es aber jede Menge zusätzlicher Probleme.

Alle modernen Dreierbeziehungen, von denen ich bisher mitbekommen habe, werden gelebt nach dem Prinzip: „Wir schauen mal, ob es gut geht.“ Das ist für mich kein biblisches Ehemodell. Die eheliche Beziehung basiert auf gegenseitiger Liebe und Hingabe, aber die Ehe als Institution ist in ihrem Kern ein nüchternes Versprechen, ein rechtlich bindender Treueschwur. Beides ergänzt sich, gehört untrennbar zusammen, und sobald man eine dieser beiden Komponenten der biblischen Ehe weglässt, ist sie im Kern beschädigt. Die mir bekannten Beispiele von echten Dreierbeziehungen verstoßen also nicht unbedingt gegen biblische Ordnungen, weil sie aus drei Personen bestehen. Sie verstoßen aber in jedem Fall gegen biblische Ordnungen, weil sie den nötigen Willen einer lebenslangen Verbindlichkeit nicht erkennen lassen.

Für eine solche Verbindlichkeit fehlen auch alle Grundlagen. Der ethische und rechtliche Rahmen einer Ehe bedarf natürlich ständiger Weiterentwicklung, kann sich aber auf jahrtausendealte Erfahrungen stützen. Für Dreierbeziehungen müsste hier erst noch Pionierarbeit geleistet werden: Eigentumsrecht, Erbrecht, Scheidungsrecht, Konfliktlösungs-Strategien, Betreuungsformen im Krankheitsfall und nicht zuletzt das Adoptions- und Elternrecht: Die ungeklärten Fragen für eine tatsächlich nach biblischen Maßstäben gelebte Dreier-Ehe sind überwältigend, und ich möchte bezweifeln, dass sie jemals befriedigend geklärt werden können.

Der Dammbruch findet nicht statt. Selbst wenn man völlig ergebnisoffen an die Bibel herangeht, kommt man bei der Beurteilung neuer Beziehungsmodelle zu durchaus konkreten Ergebnissen. Sie sind vielleicht nicht so eindeutig, wie manche Christen sich das wünschen würden. Aber sie halten nebenbei die Tür offen für das Gespräch in gegenseitiger Achtung, für Gespräche, bei denen nicht die Moral, sondern die Bibel im Mittelpunkt steht. Das Wort Gottes, wenn man es denn wirklich zu Wort kommen lässt, besitzt große Kraft. Wer moralische Dämme für nötig hält, unterschätzt diese Kraft.

Reality-Check

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Gott ist der perfekte Realist. Er sieht alles in der Welt genau so, wie es ist, und bei ihm gibt es keine Täuschung, keinen Irrtum und vor allem kein Wunschdenken. Das ist bei uns Menschen nicht so. Unsere Wahrnehmung wird von einer Vielzahl an Faktoren beeinflusst und sehr oft auch getrübt. Man muss sich nur mal ein paar optische Täuschungen anschauen, um zu erkennen, wie sehr der angeblich einfache Vorgang des Sehens von Erwartungshaltungen und Gewohnheiten beeinflusst wird.

Wenn wir Gott wirklich ähnlicher werden wollen, gehört es dazu, dass unser Blick auf die Welt realistischer wird, dass wir Irrtum und Wunschdenken zurückdrängen. Und das gelingt nicht ohne die Anerkennung und Anwendung dessen, was wir Wissenschaft nennen. Denn insbesondere die Natur- und Humanwissenschaften haben in den letzten Jahrhunderten ausgefeilte Verfahren hervorgebracht, die unsere menschlichen Schwächen zu kompensieren versuchen und einen weitgehend realistischen Blick auf Natur und Mensch ermöglichen.

Sie erfüllen damit den Auftrag Gottes an Adam. Denn in 1. Mose, Kapitel 2, steht vor dem bebauen und bewahren das benennen. Adam – und damit die gesamte Menschheit – ist beauftragt, den Tierarten ihre Namen zu geben, sie zu kategorisieren und einzuordnen. Wissen über die Natur ist nicht nur die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Gestalten und Schützen, es stellt auch einen Wert an sich dar. Gott sieht die Schöpfung, wie sie ist, und wir sollten zumindest versuchen, dem nahe zu kommen.

Damit erfüllen die Natur- und Humanwissenschaften nicht nur den Schöpfungsauftrag Gottes, sie beschäftigen sich auch indirekt mit Gott, denn Gottes Wesen und Gottes Willen sind in der Schöpfung offenbart, wie Paulus an die Römer schreibt. Dass sie dabei Gott außen vor lassen, steht dazu nicht im Widerspruch, denn es ist methodisch notwendig und praktisch bewährt. Die Loslösung von Bibel und Glauben hat den atemberaubenden Erfolg moderner Wissenschaften erst möglich gemacht.

Auf dieses Konzept der Gewinnung von Erkenntnissen hat die Christenheit häufig mit Skepsis oder sogar Ablehnung reagiert. Die Bibel als Wort Gottes stünde über der Wissenschaft, so die Argumentation, und wenn beide uneins sind, müsse die Bibel recht behalten. Die entscheidende Frage ist aber, warum sie überhaupt uneins sein sollten.

Beide, Theologie und Naturwissenschaft, beschäftigen sich mit Betrachtung, Auslegung und Systematisierung der Offenbarung Gottes. Bibel und Schöpfung sind zwei getrennte, dem Wesen nach sehr unterschiedliche Offenbarungen Gottes, aber sie kommen aus derselben Quelle, und so wie ich die Quelle kenne, können sie gar nicht im Widerspruch zueinander stehen. Wenn also die Natur- und Humanwissenschaften zu Erkenntnissen kommen, die anscheinend der Bibel widersprechen, dann hat sich mindestens eine Seite geirrt. Und ich sehe keinen Grund zu der Annahme, dass dies immer die Wissenschaften sein sollen.

Ich will keineswegs behaupten, dass die Wissenschaft immer Recht habe. Der natur- und humanwissenschaftliche Erkenntnisprozess verläuft langsam, geht häufig im Zickzack und manchmal auch Irrwege. Das in den Medien oft verbreitete Bild der Wissenschaft, die schlagartig bahnbrechende, neue Erkenntnisse beschert, ist ein Mythos. Aber der realistische Blick in die Vergangenheit zeigt eindeutig, dass die wissenschaftliche Methodik auf Dauer zu erstaunlichen Erfolgen führt, dass sie manchmal sehr bahnbrechende und unerwartete, häufig sehr belastbare und zutreffende Erkenntnisse hervorbringt. Und das Christen, die sich gegen diese Erkenntnisse gesträubt haben, sich im Rückblick regelmäßig ziemlich lächerlich gemacht haben.

Die allermeisten echten Wissenschaftler wissen um die konkreten Schwächen ihrer Theorien. Daran sollte man sich als Bibelausleger ein Vorbild nehmen. Der Konflikt entsteht meist erst dann, wenn man von der Unfehlbarkeit der Bibel auf die Unfehlbarkeit des Auslegers schließt. Das aber ist keine geistliche Position, das ist Überheblichkeit, das ist menschliche Hybris. Ein Bibelausleger, der wissenschaftliche Erkenntnis ignoriert oder gar als feindlich ansieht, beraubt sich damit nicht nur eines wichtigen Weges zur Erkenntnis Gottes, er beraubt sich damit auch eines wichtigen Korrektivs seiner eigenen Arbeit.

Es geht hier um Warnsignale, um Indizien, dass eine gewohnte Auslegung der Bibel falsch sein könnte und sie dringend gründlich überprüft werden müsste. Und wenn eine Bibelauslegung im krassen Widerspruch zur gefestigten wissenschaftlichen Meinung steht, dann müssten eigentlich für den sorgfältigen Bibelausleger sämtliche Warnglocken läuten, so dass man schon fast taub davon würde. Gott sieht die Schöpfung genau so, wie sie ist. Wenn wir das auch wollen, sollten wir alle Möglichkeiten menschlicher Erkenntnisfähigkeit nutzen. Und wenn wir das richtig gut machen, wird so etwas wie ein Widerspruch zwischen Wissenschaft und Bibel gar nicht erst auftreten.

Wo drückt der Schuh?

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Letzte Woche habe ich davon geschrieben, wie gefährlich Glaubensgrundsätze sein können. Trotzdem kommen wir nicht ohne sie aus. Es ist einfach nicht möglich bzw. würde uns völlig überfordern, ständig alle Glaubensfragen durch ausführliche, fundierte und gründliche Analyse der Bibel zu beantworten. Glaubensgrundsätze bieten nicht nur Halt und Sicherheit, sondern sind auch ein Gebot der Denkökonomie.

Deshalb die Frage in der Überschrift. Was stört mich gerade oder quält mich sogar? Wo werden meine Grundsätze und Überzeugungen zu einem Hindernis im Alltag, wo hindern sie mich daran, mich so zu bewegen, so zu sein, wie ich das eigentlich für richtig halte? Und natürlich: Welche meiner Überzeugungen stören oder gar quälen andere? Kurz: Wo drückt – mich und andere – der Schuh?

So ein Befund heißt natürlich nicht automatisch, dass diese Grundsätze und Überzeugungen falsch sind. Aber er ist ein deutliches Warnsignal, das nicht ignoriert werden darf. Und er ist ein Auftrag, die so befundenen Grundsätze bei nächster Gelegenheit einer gründlichen Nachprüfung zu unterziehen. Ich meine wirklich und ernsthaft bei nächster Gelegenheit. Und das schreibe ich an dieser Stelle vor allem für mich selbst, weil ich solche Überprüfungen viel zu oft auf die lange Bank schiebe, weil ich nicht gut genug darin bin, die nächste Gelegenheit auch wahrzunehmen.

Wenn der Schuh drückt, sollte man nachschauen warum, und sich nicht wegen eines Problems, das sich vielleicht beheben lässt, die Füße wund laufen. Wer seine Überzeugungen und Grundsätze nicht überprüft, wen sie weh tun, der läuft Gefahr, sich die Seele wund zu laufen, was ja viel schlimmer ist. Viele Schrammen und Schürfwunden an meiner Seele wären vermeidbar gewesen, wenn ich in der Vergangenheit gründlicher und konsequenter geprüft hätte. Es war Anfang 2015, als ich endlich erkannt habe, dass Gott einem wichtigen Teil meiner Persönlichkeit gar nicht ablehnt. Das Buch, das mir bei dieser Erkenntnis maßgebend geholfen hat, ist im Jahr 2001 erschienen.

Wohlgemerkt, ich schreibe immer noch von Warnsignalen, von Gründen, die eigene Überzeugung zu überprüfen. Ich schreibe nicht von Beweisen, dass diese Überzeugungen falsch seien. Das letzte Wort hat für mich immer noch die Bibel. Aber bevor ich hier noch ein Fass aufmache, was das in der Praxis heißt, komme ich noch mal zu den Warnsignalen zurück. Es gibt nämlich noch zwei weitere, die durchaus wichtig sind, die ich aber auch schon sehenden Auges ignoriert habe.

Das erste kommt aus der Frage, welches Gottesbild aus einer bestimmten Überzeugung, einer theologischen Position folgt. Ich habe hier schon davon geschrieben, wie mir Gott wie ein Gott der Willkür und der Trostlosigkeit erschien. Früher hätte ich das nicht so krass formuliert. Man muss aus einem Albtraum aufwachen, um zu erkennen, dass es ein Albtraum war. Aber wenn ich an die Krisen und Streitereien mit Gott zurückdenke, war mir eigentlich immer klar, das hier etwas ganz grundlegend nicht zusammen passt, dass der Gott, der meine sexuelle Orientierung ablehnt, ein ganz anderer Gott ist als der, den ich sonst so erlebe. Lange Zeit habe ich die Schuld bei mir selbst gesucht, bei meinem mangelnden Gehorsam, meiner mangelnden Bereitschaft zur Veränderung. Heute weiß ich: Das war die falsche Antwort, und ich hätte mich nicht mit ihr zufrieden geben dürfen.

Im wunderbaren Spielfilm Best Exotic Marigold Hotel sagt der junge, optimistische Hotelmanager Sonny:

Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.

Realistischerweise muss man dagegenhalten, dass nicht alles in dieser Welt gut endet, und dass Gott manches Happy End aufs Jenseits verschiebt. Aber wenn einem angeblich biblische Positionen derart das Gottesbild und die Beziehung zu ihm versauen, dann gibt es keinen Grund und keine Rechtfertigung, sich mit so einem „Ende“ zufrieden zu geben, dann ist das Ende der guten, geistlichen Erkenntnis noch nicht erreicht. Die Bibel ist dazu da, uns Gottes Größe zu zeigen. Wo sie das nicht tut, haben wir die Bibel noch nicht verstanden.

Und nun vom guten Film zur schlechten Serie, es folgt der Cliffhanger: Das letzte Warnsignal, von dem ich schreiben will, verdient eine ausführliche Darstellung und kommt deshalb nächste Woche.