Im Eintrag von letzter Woche habe ich dargestellt, wie manche Bibelauslegung eher von Voreingenommenheit als von exegetischer Gründlichkeit geprägt ist. Auf diese Voreingenommenheit, besser gesagt, eine bestimmte Erscheinungsform davon, möchte ich heute etwas ausführlicher eingehen.
Anknüpfungspunkt ist 1. Mose 1, 27: So schuf Gott den Menschen als sein Ebenbild, als Mann und Frau schuf er sie. Viele Ausleger glauben in diesen doch sehr schlichten und knappen Worten zu erkennen, dass es menschliches Leben nur in zwei scharf umgrenzten Erscheinungsformen gebe, nämlich als reine Männer oder als reine Frauen, bei denen alle biologischen und sonstigen Eigenschaften – einschließlich der sexuellen Orientierung – sich nach der angeblich eindeutigen genetischen Disposition richten. Nach dieser Vorstellung ist jede Abweichung von diesem Schema eine mehr oder minder krankhafte Verfälschung der Schöpfungsabsicht Gottes.
Der Fachausdruck für eine solche Position ist heteronormativ. Die meisten Menschen, die diese Position vertreten, wären vermutlich niemals in der Lage, die Begriffe „Mann“ und „Frau“ jenseits der biologischen Eigenschaften halbwegs brauchbar zu definieren, und selbst ihre biologische Definition würde sehr schnell an den verschiedenen Formen von Intersexualität scheitern. Um die Erforschung des Männlichen und Weiblichen beim Menschen hat sich ein ganzer Wissenschaftszweig gebildet, deren Disziplinen meist an der Vorsilbe „Gender“ zu erkennen sind – eine Vorsilbe, die zum Feindbild aller heteronormativ denkender Menschen geworden ist, also ironischerweise zum Feindbild genau der Menschen, die an einer wissenschaftlich klaren und überzeugenden Abgrenzung zwischen männlich und weiblich das größte Interesse haben sollten.
Die Bibel liefert tatsächlich zwei klare Kategorien: Mann und Frau. Ich persönlich lege auf diese Kategorien sehr großen Wert. Nicht nur weil ich ein Mann bin, der sich recht stark mit seinem Mann-sein identifiziert, sondern auch weil ich, wie mindestens 95 % der Menschheit, bei der Partnersuche auf ein Geschlecht festgelegt bin. Dass dieses Geschlecht zufällig mein eigenes ist, heißt ja offensichtlich nicht, dass mir die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen dabei weniger wichtig wäre.
Und selbst wenn es um die Varianten sexueller Identität geht, bei denen männliche und weibliche Anteile stark gemischt sind: Viele dieser Varianten würden ohne die grundlegenden Kategorien gar nicht existieren. Gerade transsexuelle Menschen wissen, wie stark die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht gerade jenseits der biologischen Eigenschaften sein kann, und wie wichtig die Identität als Mann oder als Frau für einen Menschen ist.
Die wissenschaftliche Forschung setzt sich, wie es sich für wissenschaftliche Forschung gehört, sehr ausführlich und sehr differenziert mit diesem Thema auseinander. Dabei ist schon angesichts der genannten Beispiele offensichtlich, dass eine differenzierte Betrachtung keinesfalls mit einer Aufhebung der Grundbegriffe, der zu Grunde liegenden Kategorien von männlich und weiblich einhergeht. Genau dieser Vorwurf wird aber den Wissenschaftlern (und allen differenziert denkenden Menschen) immer wieder gemacht.
Damit ist klar: Es geht bei der (biblisch begründeten) Heteronormativität nicht um wissenschaftliche Exaktheit, nicht mal um Erkenntnisgewinn. Es geht um schwarz-weiß-Denken. Es geht um die Erhebung des schwarz-weiß-Denkens zum Auslegungsprinzip. Dabei bezieht sich schwarz-weiß nicht nur im konkreten Fall auf Mann und Frau. Die Art und Weise, wie die Bibel ausgelegt wird, ist ganz diesem Denken verhaftet. Die einzigen Alternativen heißen „klare Lehre“ und „völlige Beliebigkeit“ Jede differenzierte Betrachtung wird als Verrat am Wort Gottes wahrgenommen.
Wie unsinnig eine solche Betrachtungsweise ist, zeigt die Autorin Melinda Selmys an einem anderen Beispiel aus der Schöpfungsgeschichte. Sie schreibt: „Ja, Gott schuf Mann und Frau. Aber Gott schuf auch Nacht und Tag, und das heißt nicht, dass Gott nicht die Morgen- und Abenddämmerung erschaffen hat. Und ironischerweise ist es typischerweise die Morgen- und die Abenddämmerung, die die Leute für die schönste Zeit des Tages halten.“ Und Matthew Vines ergänzt: „Niemand schaut einen Sonnenuntergang an und sagt: ‚Wie tragisch, dass die Grenze zwischen Nacht und Tag in unserer kaputten Welt verwischt wurde.‘ “
In der Schöpfung Gottes stecken viele einfache Grundprinzipien. Aber gerade in der Kombination und Variation dieser Grundprinzipien entwickelt sie erstaunliche Komplexität und erstaunlichen Reichtum. Die manchmal wunderbare, manchmal auch verstörende Komplexität der Welt um uns herum erfordert klares Denken. Ohne einfache Grundprinzipien (wie z. B. Mann und Frau) berauben wir uns der Fähigkeit dazu. Wer aber in diesen Grundprinzipien schon die vollständige Beschreibung der Schöpfung sieht, verschließt nicht nur die Augen vor der Realität, sondern leugnet auch den Reichtum und die Kreativität des Schöpfers, und hat damit weder Schöpfer noch Schöpfung verstanden.
Die Sehnsucht nach schwarz und weiß speist sich aus der Angst, dass ohne diese klaren Kategorien jeder Kontrast in kaum unterscheidbaren Grautönen verschwimmt. Aber es gibt eine viel schöpfungsgemäßere, viel lebendigere und zugleich viel kontrastreichere Alternative zu schwarz-weiß. Sie heißt: bunt.
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