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Dieser ist Gottes Sohn gewesen

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Paulus schrieb an die Korinther, dass die Predigt vom Kreuz den Heiden eine Torheit ist. Kein Wunder: Welche Religion sonst hat ein Gerät zur Vollstreckung der Todesstrafe als Symbol? Es wurde schon der Vorschlag gemacht, die Kreuze in den Kirchen durch Galgen zu ersetzen, um sich dieser Tatsache wieder mehr bewusst zu werden.

Trotzdem hielt es Paulus für richtig, gegenüber den Korinthern nichts zu wissen als Jesus, den Gekreuzigten. Die Torheit ist für ihn zugleich zentrale Botschaft. Ohne Jesu Tod am Kreuz ergibt für ihn (und für mich) der christliche Glaube nicht den geringsten Sinn. Einer der ersten, die diesen Sinn zumindest teilweise erkannten, war ein Heide, ein Römer, nämlich der Hauptmann des Hinrichtungskommandos. Ihn und seine Mannschaft erfasst ein tiefer Schrecken angesichts der Ereignisse, die Jesu Tod begleiten. Der Evangelist Matthäus beschreibt diese Ereignisse so:

Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!

Hat der Hauptmann in diesem Moment wirklich begriffen, wer dieser Mensch am Kreuz war, und was das für ihn bedeutete? Vermutlich nicht. Für ihn als Römer war schon der Titel „Gottes Sohn“ weit weniger exklusiv als für einen Juden. Als Teil der römischen Besatzungsmacht war ihm der Glaube an den kommenden Messias vermutlich nicht völlig fremd, aber doch in weiten Teilen unverständlich. Aber trotzdem begriff er, dass da nicht nur einer der üblichen Verbrecher am Kreuz gestorben war. Er war der erste, der den Gekreuzigten als Gottes Sohn bezeichnete.

Ich bin mit Sicherheit kein Gegner gründlichen Bibelstudiums und solider Theologie. Aber machmal ist das einfach unnötig, vielleicht sogar hinderlich. Wir dürfen uns nicht einbilden, Gott verstehen oder ergründen zu können. Das Kreuz wird für uns immer ein Rätsel bleiben, eine Torheit, wenn selbst Gott es uns nicht offenbart. Dem römischen Hauptmann offenbart sich Gott. Das ist weniger dramatisch als der zerrissene Vorhang mit seiner tiefgreifenden Symbolik, weniger spektakulär als das Erdbeben und weniger mystisch als die Toten, die vielen erscheinen. Es ist deshalb nicht weniger übernatürlich.

Bach hat dies in seine Matthäuspassion verpackt, und der Dirigent Karl Richter hat es wie kein zweiter herausgearbeitet. Man hört quasi den Vorhang reißen und die Erde beben, alles sehr dramatisch, aber alles auch sehr irdisch. Die materielle Welt reagiert auf den Tod des Erlösers. Aber dann kommen die Stimmen des Hauptmanns und seiner Mannschaft. (Weil es nach biblischem Wortlaut mehrere sind, die sprechen, besetzt Bach den Chor.) Diese Stimmen sind alles andere als irdisch, sie kommen musikalisch aus einer anderen Sphäre, aus einer anderen Welt, genau so wie die Erkenntnis des Hauptmanns nicht von dieser Welt ist.

Die Aufnahme stammt aus meinem Geburtsjahr. Es gibt modernere Aufnahmen, die wahrscheinlich eher den ursprünglichen Gedanken und Vorstellungen Johann Sebastian Bachs entsprechen, aber gerade diese Stelle gelingt keinem so einfühlsam, so tiefgründig wie dem längst verstorbenen Karl Richter:

Man kann versuchen, das Kreuz zu verstehen. Man kann es sich auch von Gott offenbaren lassen. Paulus wollte nichts wissen als nur Jesus Christus, den Gekreuzigten. Das klingt nach wenig, aber wenn dieses Wissen wirklich von Gott kommt, ist es mehr als genug.

Kreuz und Selbstwert

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Letzte Woche habe ich das Thema Vergebung angesprochen. Ich bin nicht sehr gut darin. Das heißt nicht, dass es mir nicht wichtig ist, anderen zu vergeben. Jesus betont es ja mehrfach und sogar im Vaterunser ist es enthalten: Wenn ich auf einen gnädigen Gott hoffen will, muss ich dieselbe Gnade auch anderen entgegenbringen. Das versuche ich täglich, aber ich erlebe auch täglich, dass es mir viel schwerer fällt, anderen zu vergeben, als es mir recht sein kann, und dass ich oft viel zu nachtragend bin.

Das gilt gerade auch in Fällen, in denen jemand gar nicht weiß, dass er oder sie etwas Falsches getan hat. Ich denke, wer mich um Entschuldigung bittet, bekommt meist eine ehrlich freundliche Reaktion. Aber wenn jemand sein Unrecht nicht erkennt oder nicht einsieht, werde ich fuchsig. Das ist vor allem deshalb besonders schlecht, weil ich nicht nur nicht vergebe, sondern auch noch über andere urteile – und dabei mit meinem Urteil nicht selten auch noch falsch liege. Das mag eine sehr menschliche Reaktion auf gefühltes, erlittenes Unrecht sein, aber nach über 30 Jahren als Christ sollte ich vielleicht weiter sein. Sollte. Wie gut, dass Gottes Liebe nicht davon abhängig ist.

Jesus ist für mich gestorben, als ich noch Sünder war. Und Jesus ist auch für mein derzeitiges Ich gestorben, dem Vergebung immer noch zu schwer fällt. Ich bilde mir nicht ein, Jesu Tod am Kreuz und seine Auswirkungen auf mich vollständig zu verstehen. Manches daran wird lebenslang für mich geheimnisvoll bleiben, und das ist auch gut so. Aber ich habe in letzter Zeit einen Aspekt entdeckt, der mir gerade beim Thema Vergebung weiterhilft.

Aber zunächst habe ich erkannt, wieder einmal erkannt, dass nicht jede biblische Wahrheit in jeder Situation hilfreich ist. Mein Verständnis von Vergebung ist von jeher von zwei Wahrheiten geprägt. Als erstes ist die Schuld des Anderen meist viel kleiner, als ich es annehme. Sehr wenig von dem, was bei mir als böse ankommt, ist das Ergebnis böser Absicht. Manchmal ist Dummheit, Unachtsamkeit oder Nachlässigkeit die wahre Ursache, manchmal auch einfach nur andere Werte oder kulturelle Unterschiede. Die wenigsten Treffer auf meiner Seele sind gezielt. Es ist daher sicher nicht verkehrt, erst einmal von der besten Absicht auszugehen und möglichst gut von anderen Menschen zu denken.

Die zweite Wahrheit ergibt sich schon fast daraus und wurde schon eingangs erwähnt: Ich bin keinesfalls besser. Wie kann ich bei der mutmaßlich geringen Schuld des anderen nachtragend sein, wenn ich das Maß meiner eigenen Schuld gegenüber anderen auch nur halbwegs erkannt habe?

Beide Wahrheiten sind nicht nur offensichtlich wahr, sondern auch ganz offensichtlich sehr wichtige Aspekte des Themas Schuld und Vergebung. Es sind wichtige Erkenntnisse im Umgang mit anderen Menschen und mit mir selbst, sie stutzen mich auf ein realistisches Maß zurück und wehren Rechthaberei und Hochmut ab. Sie haben aber auch ihre Grenzen: Sie ermöglichen mir Vergebung nur auf Kosten des eigenen Ichs. Wahrheit Nummer eins verharmlost die Schuld an mir und Wahrheit Nummer zwei macht mir zusätzlich ein schlechtes Gewissen.

Was Vergebung für mich in der Praxis oft so schwer macht, sind meine verletzten Gefühle. Und Vergebung auf Grundlage dieser beiden Wahrheiten hilft mir gerade in diesem Punkt überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Sie erklärt die Unterdrückung dieser schlechten Gefühle zu meiner eigenen Aufgabe, meiner Verpflichtung, die ich allein aus menschlicher Kraft zu bewältigen habe. Das geht natürlich nur so lange gut, wie meine menschliche Kraft dafür ausreicht, und das ist bei weitem nicht lange genug.

Und es geht am Kern der Vergebung vorbei. Gottes Strategie ist nicht Verharmlosung, nicht Relativierung und erst recht nicht, uns ein möglichst schlechtes Gewissen zu machen. Gottes Strategie ist es, das Thema ein für allemal zu erledigen. Dafür starb Jesus am Kreuz. Dafür musste Jesus am Kreuz sterben. Das ist das absolute Gegenteil von Verharmlosung.

Nie wurde die Schuld der Menschen so offensichtlich so ernst genommen wie vor knapp 2000 Jahren auf Golgatha. Nie wurde so deutlich, wie ernst Gott dieses Thema nimmt, wie wenig er zu das ist ja nicht so schlimm oder das war ja keine böse Absicht oder das kann ja jedem mal passieren neigt. Jede einzelne Schuld ist in Gottes Augen so schlimm, dass sie nur gesühnt werden konnte, indem ein Unschuldiger dafür stirbt. Wie schon erwähnt, ich verstehe das nicht vollständig, aber trotz allem ist es offensichtlich so.

Ich habe schon lange begriffen, dass dies meine eigene Schuld betrifft, dass Jesus für mich sterben musste, dass es für mich sonst keine Vergebung, keine Rettung gegeben hätte. Erst allmählich begreife ich, was es heißt, dass Jesus auch für andere gestorben ist, dass er gerade auch für die gestorben ist, die an mir schuldig wurden. Er zeigt mir damit, wie bitter ernst er jede einzelne Schuld an mir, jede Verletzung, jeden Stich in meiner Seele nimmt. Er macht mir mehr als deutlich, dass es für ihn unter keinen Umständen akzeptabel ist, dass mir unrecht geschieht. Das Jesus für mich gestorben ist, zeigt seine unbegreiflich große Liebe für mich. Dass Jesus für die Menschen gestorben ist, die an mir schuldig geworden sind, zeigt diese Liebe nicht minder.

Das heißt auch, dass Jesus meine verletzten Gefühle sehr ernst nimmt, vielleicht ernster als ich selbst. Ich muss sie nicht relativieren oder unterdrücken. Ich kann sie in die Zuständigkeit dessen abgeben, für den sie mindestens ebenso wichtig sind wie für mich selbst. Für Gerechtigkeit ist letztlich allein Gott zuständig. Als Mensch bin ich höchstens sein Beauftragter in der Umsetzung, in den allermeisten Fällen nicht einmal das. Vergebung heißt nicht, dass ich Schuld leugne. Es heißt, dass ich die Zuständigkeit für die Sühne abgebe. Dazu brauche ich noch viel Übung, und ich werde lebenslang ein Lernender bleiben. Aber ich verlasse mich dabei nicht mehr auf meine begrenzte Kraft, Gefühle zu unterdrücken. Und dabei hilft mir, dass ich mich als Opfer ebenso von Gott ernst genommen fühle wie als Täter.