Wer über Alan Turing schreibt, müsste eigentlich über seine Verdienste um die Theoretische Informatik schreiben. Er hat dieses Fach mitbegründet und richtungsweisende Beiträge geliefert. Wenn heute über künstliche Intelligenz diskutiert wird, geschieht das vielfach auf Grundlage seiner Arbeiten. Ich arbeite zwar als Software-Entwickler, bin aber kein Informatiker. Mir fehlt deshalb leider die Fachkompetenz, um die Bedeutung von Turings wissenschaftlichen Werk angemessen zu würdigen.
Der Zweite Weltkrieg hat Turing von der Theorie zur Praxis geführt. Er lieferte entscheidende Beiträge zur Entschlüsselung deutscher Funk-Kommunikation und den Alliierten damit äußerst wichtige Informationen. Er dürfte damit den Zweiten Weltkrieg verkürzt und unzählige Menschenleben gerettet haben.
Persönliche Ehrungen für diese Leistung blieben aus. Sein Beitrag zur Entschlüsselung der deutschen Enigma blieb bis in die siebziger Jahre geheim. Viel früher, nämlich im Jahr 1952 wurde Turing wegen „grober Unzucht und sexueller Perversion“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er eine sexuelle Beziehung zu einem Mann hatte. Um dem Gefängnis zu entgehen, unterzog er sich ersatzweise einer frühen Form der Konversionstherapie, die aus der Gabe angeblich triebhemmender Hormone und aus Psychoanalyse bestand. Die Hormone führten zu Depressionen, und zwei Jahre später starb Alan Turing unter nicht zu 100 Prozent geklärten Umständen, aber sehr wahrscheinlich durch Suizid aufgrund der Depressionserkrankung. Er wurde nur 41 Jahre alt.
2013 wurde Alan Turing nach mehrjähriger Diskussion offiziell rehabilitiert. Der Fall Turing wurde im Vereinigten Königreich zum Anlass und zur juristischen Vorlage für die Rehabilitierung unzähliger homosexueller Männer, die, wie er, unter staatlicher Verfolgung durch ungerechte Gesetze gelitten haben. Damit hat Turing sechs Jahrzehnte nach seinem Tod noch einen wichtigen Beitrag zu den Rechten homosexueller Menschen geleistet.
Alan Turing war seiner Zeit weit voraus und zerbrach an der Rückständigkeit und Grausamkeit seiner Zeit. Er war sich dessen bewusst, dass er die Anfänge einer gewaltigen, technologischen Revolution erlebte. Die moderne Computer-Technologie hätte ihn vermutlich nicht allzu sehr überrascht. Die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Ehen vielleicht umso mehr. Die Menschheit ist und bleibt lernfähig, nicht nur in technologischer, sondern auch in ethischer und menschlicher Hinsicht.
Ein Krieg zwischen den europäischen Mächten ist heute schlechterdings undenkbar, und wir sollten uns alle dafür einsetzen, dass das auch so bleibt. Das gleiche gilt mittlerweile in Turings und meiner Heimat für die strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlich Liebender. Leider ist die grausame Behandlung homosexueller Menschen, wie sie Turing erfahren hat, bei uns noch nicht ganz ausgerottet. Wir arbeiten daran.
Turings Erbe ist in der wissenschaftlichen Informatik von immenser Bedeutung, aber beschränkt sich nicht auf den Fachbereich, sondern geht weit darüber hinaus. Umso mehr freut mich eine aktuelle Würdigung. Sie kommt vielleicht Jahrzehnte zu spät und ist doch zugleich Zeichen dafür, was sich in diesen Jahrzehnten verändert hat. Heute gab der Gouverneur der Bank of England bekannt, dass Alan Turing und sein Lebenswerk auf der neuen englischen 50-Pfund-Note geehrt werden.
In diesem Artikel wird das Thema Suizid erwähnt. Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym. Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 http://www.telefonseelsorge.de
Die fünfte Jahreszeit ist vorüber, ebenso die üblichen politischen Aschermittwoche, und so langsam ebben auch die Diskussionen ab über das Zitat aus Annegret Kramp-Karrenbauers Rede beim Stockacher Narrengericht. Ich möchte es hier trotzdem noch einmal aufwärmen. Es lautet in voller – äh – Schönheit:
Guckt Euch doch mal die Männer von heute an: Wer war denn von Euch vor Kurzem mal in Berlin, da seht Ihr doch die Latte-Macchiato-Fraktion, die die Toiletten für das dritte Geschlecht einführen. Das ist für die Männer, die noch nicht wissen, ob sie noch stehen dürfen beim Pinkeln oder schon sitzen müssen. Dafür – dazwischen – ist diese Toilette.
Um erst mal das Offensichtliche aus dem Weg zu räumen: Natürlich darf man Witze über Minderheiten machen. Die meisten Witze drehen sich um Menschen oder um Gruppen, die auf die eine oder andere Weise eine Minderheit darstellen. Und natürlich darf man Witze machen, von denen sich Menschen angegriffen oder herabgesetzt fühlen. Zu fast jeden guten Witz wird sich jemand finden, der so empfindet. Und wenn es in Richtung Satire geht, besteht ja der Sinn des Witz gerade darin, Menschen anzugreifen, die es mutmaßlich verdient haben. Ralph Ruthe bringt das Problem in einem seiner Videos sehr gut auf den Punkt:
Trotzdem gibt es Unterschiede, gibt es gute und schlechte, angemessene und unangemessene Witze. Und auch wenn das eine subjektive Einschätzung ist: Kramp-Karrenbauers Witz ist für mich eindeutig unangemessen, und zwar gleich aus drei Gründen.
Zunächst macht es einen großen Unterschied, ob die Minderheit, über die man Witze macht, verfolgt oder gesellschaftlich anerkannt ist. Meine Mutter hat noch die letzten Kriegsjahre erlebt. Ihr Vater hatte während des Dritten Reichs eine junge Familie zu ernähren und musste sich dazu mit Menschen gut stellen, die er bestimmt viel lieber hochkant rausgeworfen hätte. Als Konsequenz aus diesen Erlebnissen wurde ich (Jahrzehnte später) so erzogen, dass Witze über Juden, egal in welcher Form, Tabu sind.
Natürlich ist die Situation Intergeschlechtlicher Menschen nicht vergleichbar mit der der Juden im Dritten Reich; sie werden nicht systematisch umgebracht, und sie leben in einem Rechtsstaat, in dem sie die Chance haben, ihre Rechte auch gegen eine inter-feindliche Politik durchzusetzen. Trotzdem ist die Lage nach wie vor erschreckend: So genannte kosmetische Genitaloperationen an Kindern, an denen die Betroffenen oft lebenslang leiden, sind immer noch üblich. Wir reden von einer Minderheit, deren Anderssein regelmäßig im Kindesalter wegoperiert wird – ohne jede Rücksicht auf die tatsächliche geschlechtliche Identität dieser Kinder, die ja im entsprechenden Alter meist noch nicht erkennbar ist. Dass bei Witzen über diese Menschen zumindest Vorsicht angebracht ist, sollte sich von selbst verstehen.
Denn es spielt auch eine sehr große Rolle, wie man Witze über eine Minderheit macht. Klischees können einem zuweilen ziemlich auf die Nerven gehen, sie können aber auch sehr amüsant sein. Als schwuler Mann finde ich viele Witze, die mit Schwulen-Klischees spielen, sehr lustig, das ist für mich in den meisten Fällen völlig ok. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn meine Identität oder gar mein Existenzrecht infrage gestellt oder geleugnet wird. Genau das tut zum Beispiel für die angehörigen indigener Völker das „Indianer“-Kostüm zu Fasching. Das ist für uns in Deutschland schwer zu begreifen, weil sowohl die reichhaltigen und unterschiedlichen Kulturen der indigenen Völker Amerikas als auch deren Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte für uns weit weg sind, aber das „Indianer“-Kostüm zieht tatsächlich deren ganze Kultur und Identität ins Lächerliche, wie das auch viele andere Kostüme tun, die fremde Völker zum Thema haben.
Genau in so eine Richtung geht aber der Witz Kramp-Karrenbauers: Sie macht sich nicht über die (tatsächlichen oder eingebildeten) Marotten oder Verhaltensweisen intergeschlechtlicher Menschen lustig, sie stellt Intergeschlechtlichkeit an sich als eine Marotte verunsicherter Männer dar. Sie leugnet damit die Existenz Intergeschlechtlicher Menschen als eigenständiger Gruppe, als eigenständige Kategorie geschlechtlicher, ja menschlicher Identität. Für die Betroffenen, die mitten im Kampf um rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung stehen, kann sich das nicht anders als wie ein unfairer Tiefschlag angefühlt haben.
Das führt mich zu meinem dritten Punkt, nämlich das es auch wichtig ist, wer einen Witz über eine Minderheit macht. Kramp-Karrenbauers Äußerung wurden häufig in Bezug zu Bernd Stelter gebracht, der sich zuvor in einer Faschings-Veranstaltung über Doppelnamen lustig gemacht hat und in diesem Zusammenhang auch über den Namen Kramp-Karrenbauers herzog. Bernd Stelter ist Komiker. Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, Witze zu machen. Nicht, dass das irgendwie falsch oder unbedeutend wäre, aber darüber hinaus hat er keine gesellschaftliche Bedeutung, keinen Einfluss.
Kramp-Karrenbauer ist Vorsitzende einer der größten politischen Parteien in Deutschland und wird in dieser Funktion als mögliche nächste Bundeskanzlerin gehandelt. Sie gehört zum Kreis der mächtigsten Politikern dieses Landes. Als Spitzenpolitikerin in einem demokratischen Rechtsstaats ist sie dem in der Verfassung festgeschriebenen Schutz von Minderheiten verpflichtet, zu denen laut Bundesverfassungsgericht auch intergeschlechtliche Menschen gehören. Sich in dieser Position einen Witz zu erlauben, der die Identität und das Existenzrecht intergeschlechtlicher Menschen in Frage stellt, hat ein ganz andere Qualität, als wenn Bernd Stelter das täte – und soweit ich weiß, tut er das nicht.
Es ist übrigens überhaupt nicht nötig, jetzt jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Jeder Mensch hat einen moralischen Kompass, und damit ein instinktives Gefühl, welche Witze angemessen sind und in welcher Situation. Dieser moralische Kompass ist aber nicht angeboren, sondern wird im Lauf des Lebens geformt, zuerst durch die Erziehung, später zunehmend durch eigenes Nachdenken und eigene Entscheidungen. Wem Minderheitenschutz ein wichtiges Anliegen ist, und wer sich auch gerne über die Anliegen von Minderheiten informiert, ist ganz von selbst wenig geneigt, herabsetzende Witze über Minderheiten zu machen, und muss dazu nicht mal groß nachdenken. Und wenn eine solche Person doch mal einen solchen Witz macht, wird sie, wenn sie darauf hingewiesen wird, ganz selbstverständlich den Witz aus ihrem Repertoire streichen und sich freuen, etwas Neues gelernt zu haben.
Kramp-Karrenbauer hat nicht deshalb einen unangemessen und herabsetzenden Witz über intergeschlechtliche Menschen gemacht, weil sie zu wenig aufgepasst hat, weil sie ihre Worte nicht auf die sprichwörtliche Goldwaage gelegt hat. Sie hat einen unangemessenen und herabsetzenden Witz gemacht, weil es ihr längst zur Gewohnheit geworden ist, sich herabsetzend über LGBTIQ+ zu äußern. Sie hat damit ihren moralischen Kompass schon so weit verbogen, dass ihr die Unangemessenheit ihres Witzes gar nicht mehr auffallen konnte. In diesem Sinne: Lasst unsere Politiker nur Witze machen: Sie verraten dabei vielleicht mehr über sich, als ihnen lieb sein kann.
Paulus schrieb an die Korinther, dass die Predigt vom Kreuz den Heiden eine Torheit ist. Kein Wunder: Welche Religion sonst hat ein Gerät zur Vollstreckung der Todesstrafe als Symbol? Es wurde schon der Vorschlag gemacht, die Kreuze in den Kirchen durch Galgen zu ersetzen, um sich dieser Tatsache wieder mehr bewusst zu werden.
Trotzdem hielt es Paulus für richtig, gegenüber den Korinthern nichts zu wissen als Jesus, den Gekreuzigten. Die Torheit ist für ihn zugleich zentrale Botschaft. Ohne Jesu Tod am Kreuz ergibt für ihn (und für mich) der christliche Glaube nicht den geringsten Sinn. Einer der ersten, die diesen Sinn zumindest teilweise erkannten, war ein Heide, ein Römer, nämlich der Hauptmann des Hinrichtungskommandos. Ihn und seine Mannschaft erfasst ein tiefer Schrecken angesichts der Ereignisse, die Jesu Tod begleiten. Der Evangelist Matthäus beschreibt diese Ereignisse so:
Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!
Hat der Hauptmann in diesem Moment wirklich begriffen, wer dieser Mensch am Kreuz war, und was das für ihn bedeutete? Vermutlich nicht. Für ihn als Römer war schon der Titel „Gottes Sohn“ weit weniger exklusiv als für einen Juden. Als Teil der römischen Besatzungsmacht war ihm der Glaube an den kommenden Messias vermutlich nicht völlig fremd, aber doch in weiten Teilen unverständlich. Aber trotzdem begriff er, dass da nicht nur einer der üblichen Verbrecher am Kreuz gestorben war. Er war der erste, der den Gekreuzigten als Gottes Sohn bezeichnete.
Ich bin mit Sicherheit kein Gegner gründlichen Bibelstudiums und solider Theologie. Aber machmal ist das einfach unnötig, vielleicht sogar hinderlich. Wir dürfen uns nicht einbilden, Gott verstehen oder ergründen zu können. Das Kreuz wird für uns immer ein Rätsel bleiben, eine Torheit, wenn selbst Gott es uns nicht offenbart. Dem römischen Hauptmann offenbart sich Gott. Das ist weniger dramatisch als der zerrissene Vorhang mit seiner tiefgreifenden Symbolik, weniger spektakulär als das Erdbeben und weniger mystisch als die Toten, die vielen erscheinen. Es ist deshalb nicht weniger übernatürlich.
Bach hat dies in seine Matthäuspassion verpackt, und der Dirigent Karl Richter hat es wie kein zweiter herausgearbeitet. Man hört quasi den Vorhang reißen und die Erde beben, alles sehr dramatisch, aber alles auch sehr irdisch. Die materielle Welt reagiert auf den Tod des Erlösers. Aber dann kommen die Stimmen des Hauptmanns und seiner Mannschaft. (Weil es nach biblischem Wortlaut mehrere sind, die sprechen, besetzt Bach den Chor.) Diese Stimmen sind alles andere als irdisch, sie kommen musikalisch aus einer anderen Sphäre, aus einer anderen Welt, genau so wie die Erkenntnis des Hauptmanns nicht von dieser Welt ist.
Die Aufnahme stammt aus meinem Geburtsjahr. Es gibt modernere Aufnahmen, die wahrscheinlich eher den ursprünglichen Gedanken und Vorstellungen Johann Sebastian Bachs entsprechen, aber gerade diese Stelle gelingt keinem so einfühlsam, so tiefgründig wie dem längst verstorbenen Karl Richter:
Man kann versuchen, das Kreuz zu verstehen. Man kann es sich auch von Gott offenbaren lassen. Paulus wollte nichts wissen als nur Jesus Christus, den Gekreuzigten. Das klingt nach wenig, aber wenn dieses Wissen wirklich von Gott kommt, ist es mehr als genug.
Weihnachten! Der Tag gehört bei mir traditionell der Familie und unseren Gästen. Deshalb gibt es heute nur einen kurzen Eintrag, den ich schon am letzten Wochenende vorab geschrieben habe, und der heute (hoffentlich) automatisch online gehen sollte.
Der Tag gehört auch der Anbetung des neugeborenen Königs der Juden, unseres Herrn. Meine erste „Weihnachtsbotschaft“ in diesem Blog habe ich schon letzte Woche veröffentlicht. Heute möchte ich ein wenig Gelegenheit zur Anbetung geben, und zwar mit einem der schönsten Anbetungslieder, die je geschrieben wurde. Es ist kein modernes Lobpreis-Lied, der Sprache merkt man die vergangenen Jahrhunderte deutlich an. Leider wird es – wie so viele Lieder dieses Autors – nur sehr selten in voller Länge gesungen, denn gerade als Gesamtkunstwerk entfaltet es seine außergewöhnliche Tiefe. Deshalb hier zum Festtag in voller Länge der wunderschöne Text von Paul Gerhardt:
Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und laß dir’s wohlgefallen.
Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren.
Eh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.
Ich lag in tiefster Todesnacht,
du warest meine Sonne,
die Sonne, die mir zugebracht
Licht, Leben, Freud und Wonne.
O Sonne, die das werte Licht
des Glaubens in mir zugericht‘,
wie schön sind deine Strahlen!
Ich sehe dich mit Freuden an
und kann mich nicht satt sehen;
und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O daß mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel ein weites Meer,
daß ich dich möchte fassen!
Wann oft mein Herz im Leibe weint
und keinen Trost kann finden,
rufst du mir zu: „Ich bin dein Freund,
ein Tilger deiner Sünden.
Was trauerst du, o Bruder mein?
Du sollst ja guter Dinge sein,
ich zahle deine Schulden.“
O daß doch so ein lieber Stern
soll in der Krippen liegen!
Für edle Kinder großer Herrn
gehören güldne Wiegen.
Ach Heu und Stroh ist viel zu schlecht,
Samt, Seide, Purpur wären recht,
dies Kindlein drauf zu legen!
Nehmt weg das Stroh, nehmt weg das Heu,
ich will mir Blumen holen,
daß meines Heilands Lager sei
auf lieblichen Violen;
mit Rosen, Nelken, Rosmarin
aus schönen Gärten will ich ihn
von oben her bestreuen.
Du fragest nicht nach Lust der Welt
noch nach des Leibes Freuden;
du hast dich bei uns eingestellt,
an unsrer Statt zu leiden,
suchst meiner Seele Herrlichkeit
durch Elend und Armseligkeit;
das will ich dir nicht wehren.
Eins aber, hoff ich, wirst du mir,
mein Heiland, nicht versagen:
daß ich dich möge für und für
in, bei und an mir tragen.
So laß mich doch dein Kripplein sein;
komm, komm und lege bei mir ein
dich und all deine Freuden.
Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern!
So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.
Diese Zeilen stammen von dem Theologen, Journalist und Schriftsteller Jochen Klepper. Er schrieb sie im Jahr 1937, wenige Monate nach seinem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer. Den Gedichtband, der unter anderem dieses Weihnachtslied enthält, konnte er nur mit einer Sondergenehmigung herausgeben.
Diese Schwierigkeiten hatte Klepper nicht wegen des Inhalts seiner Schriften, sondern weil er mit einer jüdischen Frau verheiratet war. Er schrieb sein bekanntes Weihnachtslied in sehr dunklen Zeiten, und sie sollten noch dunkler werden. Das Ende der Naziherrschaft sollte er nicht mehr erleben. Im Jahr 1942 scheiterte die Ausreise seiner Stieftochter, und ihm wurde mitgeteilt, dass Zwangsscheidung und Deportation kurz bevor standen. In dieser Situation entschied sich die kleine Familie zwei Wochen vor Weihnachten, gemeinsam freiwillig aus dem Leben zu scheiden.
Im Jahr 1959 wurden Richard und Mildred Loving zu jeweils einem Jahr Haft verurteilt, weil sie geheiratet hatten. Ihr Verbrechen: Richard Loving war Weißer, seine Frau nicht. Der Richter begründete das Urteil wie folgt:
Gott der Allmächtige hat die Rassen geschaffen, Weiße, Schwarze, Gelbe, Malaien und Rote, und er hat sie verschiedenen Kontinenten zugeordnet. Und es gibt keinen Grund für solche Ehen, abgesehen von den aufgrund seiner Fügung herbeigeführten. Die Tatsache, dass er die Rassen getrennt hat, ist Beweis dafür, dass er nicht beabsichtigte, dass sich die Rassen mischen.
Erst 1967 wurde das Urteil – und damit die letzten Verbote „gemischtrassiger“ Ehen in den USA – vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten aufgehoben.
Auch Schwule und Lesben wurden im Dritten Reich verfolgt und mussten ihr Recht auf Eheschließung vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten erkämpfen. Ist es legitim, hier die offensichtliche Parallele zur gleichgeschlechtlichen Ehe zu ziehen? Was würden die Ehepaare Klepper und Loving dazu sagen? Würden sie zustimmen, oder würden sie sagen, das sei etwas völlig anderes?
Meine Lieblingszeile aus Kleppers Weihnachtslied habe ich im fünften und letzten Vers gefunden:
Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.
Jesus ist in diese Welt gekommen, um ihr Licht, um ihr Freude und Frieden zu schenken. Dieses Licht erschien zuerst den Weisen als besondere Sternkonstellation, den Hirten als hell leuchtender Engelchor. Es soll das Leben der Menschen erhellen, nicht verdunkeln. Wer Trennung fordert, wo Liebe lebenslang verbinden will, kämpft für die Dunkelheit.
Wir beschenken uns an Weihnachten, nicht zuletzt weil wir uns von Jesus beschenkt fühlen. Er schenkt sich selbst. Das Leid und die Verlorenheit der Welt löst er nicht durch Ermahnung und Verurteilung, auch wenn wir das verdient hätten. Statt dessen beschenkt er uns mit dem Reichtum seiner Nähe. Belohnung statt Strafe als Rettung für die Welt.
Christus als Morgenstern ist die Ankündigung eines Lichts, das vielfach noch auf sich warten lässt. Mancherorts sehen wir schon die Morgendämmerung, an anderer Stelle scheint sich die Nacht eher noch zu vertiefen. Richard und Mildred Loving haben für ihr Anliegen das Aufleuchten dieses Lichts erleben dürfen. Jochen und Johanna Klepper blieb dies versagt, aber sie haben uns Zeilen hinterlassen, die helfen, die Hoffnung aufrecht zu erhalten. Christus, der Morgenstern, der gekommen ist, das Dunkel zu erhellen, war Leitstern ihres Handelns. Licht ins Dunkel zu bringen, ist der Auftrag aller, die diesem Morgenstern folgen. Nichts in dieser Welt wird den Anbruch des Tages aufhalten. Oder mit anderen Worten: Love wins.
Im Jahr 1517 soll ein gewisser Hans von Hake bei Johann Tetzel einen Ablassbrief „für noch zu begehende Sünden“ gekauft haben. Kurz darauf überfiel und beraubte er Tetzel unter Vorzeigung dieses Ablassbriefes. Historiker bezweifeln, dass dies so stattgefunden hat, aber unabhängig von ihrem historischen Gehalt zeigt die Geschichte wunderbar die Absurdität des Ablasshandels auf.
Tetzel ist längst tot und glücklicherweise auch die von ihm vertretene Form des Ablasses gegen Geld. Ablässe gibt es aber immer noch. Die katholische Kirche definiert wie folgt (Stand 1983):
Ablaß ist der Nachlaß zeitlicher Strafe vor Gott für Sünden, deren Schuld schon getilgt ist; ihn erlangt der entsprechend disponierte Gläubige unter bestimmten festgelegten Voraussetzungen durch die Hilfe der Kirche, die im Dienst an der Erlösung den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen autoritativ verwaltet und zuwendet.
Als aufrechter Protestant des 21. Jahrhunderts muss ich sagen: Mir gruselt. Ich möchte hier nicht auf die theologischen Details eingehen, aber ich muss sagen: Mehr noch als die Ablass-Praxis des 16. Jahrhunderts jagt mir die theologische Begründung kalte Schauer über den Rücken. Das passt gut zur Jahreszeit, denn morgen ist der ideale Tag für Gruselgeschichten aller Art, auch über den Ablasshandel.
Statt Hans von Hakes Überfall, der wohl eher dem Reich der Legende zuzuordnen ist, gedenken wir morgen am Reformationstag Martin Luthers historisch verbürgten 95 Thesen. Statt einer äußerst gelungenen, aber theologisch vermutlich fragwürdigen Satire-Aktion feiern wir ein theologisch fundiertes, aber ziemlich langatmiges Thesenpapier. Die evangelische Christenheit hat nicht viel Glück mit ihren spezifischen Feiertagen: Der Reformationstag hat einen trockenen theologischen Disput zum Thema, beim Buß- und Bettag klingt schon der Name nach schlechter Laune – zumindest seit der Rechtschreibreform, die es unmöglich gemacht hat, im Bet-Tag einen Bett-Tag zu lesen.
Entsprechend hoffnungslos erscheint es mir, sich der Überlagerung des Reformationstags durch Halloween entgegenzustellen. Denn gegenüber so ziemlich jeder Reformationstags-Feier hat so ziemlich jede Halloween-Feier einen entscheidenden Vorteil: Sie macht Spaß. Wenn ich sehe, mit welcher Kreativität, welchem Humor und welcher Liebe zum Detail sich die angelsächsische Welt diesem Feiertag widmet, werde ich ein wenig neidisch. Mit dem deutschen Kulturgut Fasching stehe ich seit jeher auf Kriegsfuß. Der amerikanische Halloween-Kult liegt mir da wesentlich näher. Ich stelle mir einen Abend in Gesellschaft von Horror-Clowns wesentlich lustiger vor als einen Abend in Gesellschaft von Faschingsprinzen und Funkenmariechen.
Im Gegensatz zu Vatertag und Himmelfahrt wurde ja Halloween nicht mit Absicht auf einen christlichen Feiertag gelegt. Die Termine haben zwar einen gemeinsamen Grund (der Tag vor Allerheiligen), entstanden aber völlig unabhängig voneinander. Die Protestanten haben bekanntlich ihren Namen davon, dass sie 1529 gegen die Ächtung Martin Luthers protestierten. Heute protestieren sie vielfach dagegen, dass fröhliche Halloween-Feiern den theologisch-trockenen Reformationstag verdrängen. Ein verlorener Kampf, mit dem sie in erster Linie erreichen, dass die Anhänger Jesu, der von seinen Gegnern als Fresser und Weinsäufer bezeichnet wurde, heute vor allem als Spaßbremsen bekannt sind.
Statt den Terminkonflikt gelassen hinzunehmen, wird er zum Kultur- oder gar Glaubenskampf überhöht. Wer sich und seine Sache zu ernst und zu wichtig nimmt, gleitet allzu leicht ins Absurde ab und macht sich am Ende nur lächerlich – so wie Tetzel durch durch Hans von Hake lächerlich gemacht wurde. Halloween-Feiern haben ebenso ihre Berechtigung wie Reformationstags-Gottesdienste. Dabei sind beide Feste derart unterschiedlich, dass sie unmöglich in Konkurrenz zueinander stehen könnten, lägen sie nicht dummerweise auf demselben Tag. Was beide aber letztendlich gemeinsam haben, ist das wohlige Gruseln in der Erinnerung an längst überwundenen Aberglauben.
Halloween bietet neben traditionellen Motiven auch die Gelegenheit für ungewöhnliche Kostüme. Von mehreren Anbietern gibt es passende Perücken, um sich als Donald Trump zu verkleiden, eine wahrhaft gruselige Figur. Nächstes Jahr wird zum Reformations-Jubiläum sicher auch der eine oder andere Luther auftauchen. Ich hätte da eine viel bessere Idee: Johann Tetzel inklusive Ablassbriefe, Geldkasten und Tonsur. Zwar werden nur die wenigsten verstehen, was daran gruselig sein soll, aber beim Rest lässt sich mit dieser Figur, wenn man sie gut spielt, nebenbei sehr schön Geld für einen guten Zweck sammeln.
Um es vorweg in aller Deutlichkeit zu sagen: Ich bin entschieden gegen das Tragen von Ganzkörper- oder Gesichtsschleiern, sei es Burka, Niqab oder was auch immer. Ich bin dagegen, dass Frauen (und der Vollständigkeit halber: auch Männer) ihr Gesicht in Gegenwart anderer Menschen verschleiern, weil ich persönlich der Meinung bin, dass dies nicht zu den Werten unserer Gesellschaft passt. Zur Würde des Menschen gehört es, anderen Menschen offen, unverhüllt, als der Mensch, der man ist, gegenübertreten zu dürfen und zu können. Der Schleier steht dieser Offenheit sowohl symbolisch als auch ganz praktisch entgegen. Damit ist er allerdings nicht allein. Die Angriffe auf die Menschenwürde sind vielfältig, und vermutlich beschädigt eine durchschnittliche Ausgabe der Bild mehr die Würde von Menschen als eine Burka oder ein Niqab.
Das Verbot der Bild ist ein verlockender Gedanke, ist aber völlig zurecht nicht mit der Pressefreiheit vereinbar. Statt dessen wird zur Zeit mal wieder ein allgemeines Verschleierungsverbot diskutiert. Viele sehen darin eine Verletzung der Religionsfreiheit. Ich finde: zu Recht.
Dabei spielt es nur eine sehr untergeordnete Rolle, ob die Verschleierung wirklich Teil des Islams oder bestimmter Strömungen des Islams ist. Es steht dem Staat nicht zu, in die religiösen Überzeugungen seiner Bürger hineinzureden. Wenn ein Mensch der Meinung ist, die Verschleierung von Frauen sei Teil seiner Religion, dann ist das Teil seiner Religion. Es gehört zum Wesenskern der Religionsfreiheit, dass sich der Staat aus den inhaltlichen Glaubensfragen herauszuhalten hat, und es steht dem Staat nicht zu zu definieren, was wahrer Islam ist und was nicht, genauso wenig wie er sich in theologische Streitfragen unter Christen einmischen darf.
Es geht auch nicht darum, ob hier die Religionsfreiheit zu weit getrieben wird. Es gehört zum Wesen der Grundrechte, dass sie zunächst grenzenlos sind und nur durch andere Grundrechte eingeschränkt werden können. Kein Grundrecht gilt absolut, jedes Grundrecht steht in ständiger Konkurrenz zu anderen Grundrechten, und im Konfliktfall muss stets abgewogen werden, welches Grundrecht im Einzelfall stärker gewichtet werden muss.
Beim Verschleierungsverbot geht es also nicht darum, ob zu viel Religionsfreiheit gewährt wird. Vielmehr müssen die Gegner der Verschleierung (also auch ich) konkret nachweisen, welche andere Grundrechte so stark betroffen sind, dass das Recht auf Religionsfreiheit eingeschränkt werden muss. Ich denke, der Nachweis dürfte in vielen Fällen recht einfach zu führen sein: Für Verfahrensbeteiligte bei Gericht lässt sich mit dem Recht auf ein faires Verfahren argumentieren, an Schulen mit dem Erziehungsauftrag des Staates (für Schüler) und dessen Neutralitätspflicht (für Lehrer), und selbst für den Bäckerladen an der Ecke kann man aus Vertragsfreiheit und Hausrecht noch halbwegs plausible Argumente zusammenbauen.
Für ein generelles Verschleierungsverbot im öffentlichen Raum fehlt mir aber jede tragfähige, grundrechtsbasierte Argumentation, fehlt mir die Verletzung anderer Grundrechte, die schwerwiegend genug ist, um diese Einschränkung der Religionsfreiheit zu rechtfertigen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages kam 2012 in einem Gutachten zu einem ähnlichen Ergebnis.
Natürlich gibt es da noch die Menschenwürde der betroffenen Frauen, die allerhöchsten Grundrechtsrang hat. Es ist anzunehmen, dass viele Frauen die Burka oder den Niqab nicht aus freier Entscheidung, sondern wegen gesellschaftlichen oder familiären Zwangs tragen, und dass diese Frauen durch den Schleier zum Objekt der Vorstellungen anderer degradiert und dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt werden. Aber auch ein generelles Verbot macht diese Frauen nicht weniger zum Objekt der Entscheidung anderer, in diesem Fall des Staates. Es bringt uns nicht weiter, eine Verletzung der Menschenwürde durch eine andere Verletzung der Menschenwürde zu ersetzen.
Ab da geht es nur mit Wertungen weiter. Man könnte argumentieren, dass das Verbot des Schleiers weniger schlimm ist als der Zwang, ihn zu tragen. Man könnte sagen, dass das Verbot letztlich nur dem Wohl der betroffenen Frauen dient und deshalb auch gegen ihren Willen durchgesetzt werden darf. Und außerdem könnte man der Meinung sein, dass der Islam, insbesondere der Teil davon, der Vollverschleierung propagiert, aus Deutschland zurückgedrängt werden müsse. Argumente, denen ich persönlich eine ganze Menge abgewinnen kann, denen ich in Teilen auch zustimme. Aber wenn sich die Organe des Staates diese Argumente zu eigen machen sollen, bekomme ich ein ganz, ganz schlechtes Gefühl.
Als Christ vertrete ich viele Positionen, die von vielen meiner Mitmenschen als absurd, vielleicht sogar als abartig oder intolerant oder schädlich angesehen werden. Die Religionsfreiheit gewährt mir das Recht, diese Positionen öffentlich zu vertreten und zu leben, auch wenn ich damit in der Minderheit bin und ich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als Gegner habe. Als Nachfolger Jesu ist man fast immer Teil einer Minderheit, egal wie christlich geprägt die Gesellschaft um uns herum sein mag. Ich brauche den Schutz der Religionsfreiheit nicht weniger als die verschleierte Muslimin.
Der inhaltliche Kampf gegen den Islam darf gerne geführt werden, mit möglichst viel Sachkenntnis und Überzeugungskraft, mit viel Respekt und Liebe, aber vor allem muss er privat geführt werden, mit den Mitteln der Zivilgesellschaft. Dort, wo sich der Staat einmischt, wo es um Verbote geht, haben sämtliche religiösen Argumente, haben Diskussionen und Wertungen von Glaubensfragen tabu zu sein. Und wenn Christen mit christlichen Argumenten für ein Verschleierungsverbot argumentieren, wenn sie unsere christliche Kultur oder gar die Überlegenheit des christlichen Glaubens ins Feld führen, dann bekomme ich es mit der Angst zu tun. Denn im Kampf gegen den Islam bekämpfen sie die Religionsfreiheit gleich mit. Und damit sägen sie an dem Ast, auf dem wir alle sitzen.
Am vergangenen Montag griff ein vermutlich Minderjähriger in der Nähe von Würzburg Mitreisende in einem Regionalzug und später eine Passantin an und verletzte fünf Personen, vier davon schwer. Der Angreifer wurde von der Polizei in Notwehr erschossen. Nur vier Tage später, am Freitag, eröffnete ein 18-jähriger in einem Münchner Einkaufszentrum das Feuer, traf dreizehn Menschen, neun davon tödlich, und erschoss sich schließlich selbst.
Ich schreibe heute nicht für die mittelbar oder unmittelbar Betroffenen dieser Taten, nicht für die Opfer und deren Angehörige, nicht für die Augenzeugen oder Helfer. Ich bin weder selbst betroffen, noch kenne ich mich in Notfallseelsorge aus, und ich maße mir nicht an, auch nur annähernd beurteilen zu können, was in den Betroffenen selbst vorgeht. Ich will auch nicht über mögliche Motive und sich daraus ergebende Präventionsmaßnahmen spekulieren. Ich schreibe für den Rest von uns.
Zu oft habe ich in den letzten Wochen die Tagesschau-Eilmeldung zu einem ähnlichen Angriff auf meinem Handy gesehen und dann auf weitere Informationen gewartet. Und je näher die Tatorte waren (von Orlando einmal abgesehen), desto mehr schockieren mich die Taten. Vielleicht sollte es nicht so sein. Ein Menschenleben ist in München nicht mehr wert als in Nizza oder in Ankara oder in Bagdad. Aber räumliche Nähe bedeutet nun mal auch emotionale Nähe, so sind wir Menschen nun mal gestrickt, und mit der räumlichen Nähe kommt auch die Furcht. Ich war noch nie in Nizza oder Ankara oder Bagdad, aber im Zug in der nähe von Würzburg war ich schon oft unterwegs, und auch München habe ich schon häufig besucht. Es hätte zumindest theoretisch auch mich treffen können.
Furcht braucht keine rationale Grundlage. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland laut polizeilicher Kriminalstatistik 589 Menschen Opfer von Mord oder Totschlag. Im gleichen Zeitraum starben 3.475 Menschen im Straßenverkehr und vermutlich über 50.000 Menschen an einem Herzinfarkt. Ich denke, ich könnte mein Risiko, bei einem Anschlag oder Amoklauf ums Leben zu kommen, schon mit ein wenig mehr Bewegung und besserer Ernährung mehr als kompensieren. Und die Autofahrt nach München ist mit Sicherheit gefährlicher als der Aufenthalt in einem Einkaufszentrum dort oder die gleiche Strecke im Zug.
Furcht ist auch ein schlechter Ratgeber. Sie verdrängt rationale Erwägungen und führt allzu leicht in Panik. Sie ist Nährboden für Extremismus, Hass und Gewalt und macht damit viel mehr Menschen zu Opfern als die Taten, vor denen wir uns fürchten. Die Gefahr, in Deutschland einem Anschlag zum Opfer zu fallen, mag real sein, sie ist aber sehr gering. Sie kann uns blind machen für viele andere, viel größere Gefahren und damit großen Schaden anrichten. Sie kann uns aber auch die Augen dafür öffnen, dass Leben immer bedroht ist.
Ich lebe glücklicherweise in einem Land, in dem die meisten Menschen ein hohes Alter erreichen. Das ist sehr schön, das kann uns aber auch in einer trügerische Sicherheit wiegen. Ein dummer Zufall kann dazu führen, dass ein Mensch dieses hohe Alter nicht erreicht. Einmal zum falschen Zeit am falschen Ort zu sein, genügt schon. Mose betet im Psalm 90:
Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.
Ich habe vielleicht Angst vor dem Sterben, aber eigentlich keine Angst vor dem Tod. Aber von der Klugheit, die aus dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit erwächst, könnte ich durchaus noch etwas mehr gebrauchen. Die Amokläufe dieser Woche hätten jeden treffen können. Sie sind aber nur ein ganz kleines Beispiel für die Gefahren, die menschliches Leben bedrohen. Sie können uns auf diese Gefahren hinweisen, sie können Anlass sein, sich einmal wieder der eigenen Sterblichkeit bewusst zu werden.
Die Antwort darauf lautet nicht Furcht, die Antwort darauf lautet Klugheit, und zwar die Klugheit, die uns hilft, unser Leben richtig auszurichten, unsere Prioritäten richtig zu setzen. Wenn wir das Glück haben, von solchen Taten nur in den Nachrichten zu hören, sind sie eine gute Gelegenheit zu überlegen, was im Leben wirklich zählt. Und wenn wir uns gegen die Furcht entscheiden, können sie uns sogar den Mut geben, entsprechende Entscheidungen zu treffen, um in unserem Leben wirklich etwas zum Besseren zu verändern.
Was wir dabei aber keinesfalls vergessen dürfen, sind die Opfer dieser Verbrechen. Die Selbstreflexion darf uns keinesfalls davon abhalten zu helfen, wo Hilfe bitter nötig ist. Und wenn wir keine Gelegenheit zur praktischen Hilfe haben: Beten kann jeder.
Zum Ostersonntag gibt es heute einen Eintrag leicht abseits des Blog-Themas.
In der Bibel wird von insgesamt sieben Menschen berichtet, die vom Tod auferweckt wurden: zwei im Alten Testament, drei in den Evangelien und zwei in der Apostelgeschichte. Alle sieben haben eines gemeinsam: Sie sind längst tot. Keiner von ihnen lebt heute mehr. Auch wenn ihr Tod rückgängig gemacht wurde, so ist doch keiner von ihnen unsterblich geworden. Sie haben ein paar zusätzliche Jahrzehnte auf dieser Erde gewonnen, mehr nicht.
Die Auferstehung Jesu spielt da in einer ganz anderen Klasse. Sie war und sie ist bis heute ein in der Weltgeschichte einmaliges Ereignis. Sie markiert nichts weniger als das Erscheinen des Prototyps eines neuen Menschen. Es wurde nicht etwas wiederhergestellt, was vorher schon da war, es kam etwas völlig Neues in die Welt. Das zeigt sich schon im völlig losgelösten Verhältnis des Auferstandenen zu Raum und Zeit. Er erscheint und verschwindet, wo es ihm gefällt. Er ist materiell, anfassbar, trotzdem sind verschlossene Türen kein Hindernis für ihn.
Jesus konnte schon vor Tod und Auferstehung die Grenze der Naturgesetze durchbrechen. Er ging auf dem Wasser, stillte einen Sturm, machte mit fünf Broten und zwei Fischen über fünftausend Menschen satt. Aber es waren trotz ihrer Häufigkeit noch einzelne Wunder, einzeln stehende Zeichen und Beweise für die besondere Stellung des Sohnes beim Vater. Jetzt, nach der Auferstehung, haben die Naturgesetze für Jesus jede Bedeutung verloren.
Noch ist Jesus der einzige, der mit dieser Fülle an Macht und Freiheit ausgestattet wurde. Er wird aber nicht der einzige bleiben, denn wir werden alle verwandelt werden – in einem Augenblick, beim Ton der letzten Posaune. Dabei bin ich überzeugt, dass die Befreiung von den menschlichen Zwängen mit der finalen Läuterung unseres Charakters, unseres Wesens einhergeht, einhergehen muss, denn ohne sie wäre keiner von uns in der Lage, mit dieser plötzlichen Machtfülle umzugehen.
Deshalb sind wir im Prinzip in derselben Situation wie Jesus damals. Auch wenn es uns durch Gottes Macht vielleicht ab und zu gelingen kann, die Naturgesetze zu durchbrechen, wir sind immer noch an sie gebunden. Die menschliche Natur ordnet sich der göttlichen Schöpfungsordnung unter. Sie hat keine andere Wahl.
Und dennoch: Der auferstandene Christus lebt in uns. Das neue Leben in Christus hat in uns begonnen, und das neue Auferstehungsleben, das durch Christus in die Welt gekommen ist, hinterlässt schon heute seine Spuren. Die sind manchmal nur schwer zu entdecken. Jesus arbeitet von innen nach außen, er beginnt beim wahren Kern unserer Persönlichkeit, der sogar für uns selbst nur schwer zu entdecken und zu begreifen ist.
Der Ostersonntag ist ein guter Anlass, einmal in Ruhe nach diesen Spuren des neuen Lebens in uns Ausschau zu halten. Dieses Leben entsteht und wächst allein durch Gottes Gnade, zum Wachstum selbst können wir nichts beitragen. Aber wir können die Wachstumsbedingungen schaffen und verbessern. Wir können diese vielleicht noch sehr zarten Pflänzchen entdecken, hegen und pflegen. Und wir können den Schöpfer dafür preisen, dass dieses neue Leben in Christus in uns bereits begonnen hat.