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Schlagwort-Archive: Schuld

Kreuz und Selbstwert

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Letzte Woche habe ich das Thema Vergebung angesprochen. Ich bin nicht sehr gut darin. Das heißt nicht, dass es mir nicht wichtig ist, anderen zu vergeben. Jesus betont es ja mehrfach und sogar im Vaterunser ist es enthalten: Wenn ich auf einen gnädigen Gott hoffen will, muss ich dieselbe Gnade auch anderen entgegenbringen. Das versuche ich täglich, aber ich erlebe auch täglich, dass es mir viel schwerer fällt, anderen zu vergeben, als es mir recht sein kann, und dass ich oft viel zu nachtragend bin.

Das gilt gerade auch in Fällen, in denen jemand gar nicht weiß, dass er oder sie etwas Falsches getan hat. Ich denke, wer mich um Entschuldigung bittet, bekommt meist eine ehrlich freundliche Reaktion. Aber wenn jemand sein Unrecht nicht erkennt oder nicht einsieht, werde ich fuchsig. Das ist vor allem deshalb besonders schlecht, weil ich nicht nur nicht vergebe, sondern auch noch über andere urteile – und dabei mit meinem Urteil nicht selten auch noch falsch liege. Das mag eine sehr menschliche Reaktion auf gefühltes, erlittenes Unrecht sein, aber nach über 30 Jahren als Christ sollte ich vielleicht weiter sein. Sollte. Wie gut, dass Gottes Liebe nicht davon abhängig ist.

Jesus ist für mich gestorben, als ich noch Sünder war. Und Jesus ist auch für mein derzeitiges Ich gestorben, dem Vergebung immer noch zu schwer fällt. Ich bilde mir nicht ein, Jesu Tod am Kreuz und seine Auswirkungen auf mich vollständig zu verstehen. Manches daran wird lebenslang für mich geheimnisvoll bleiben, und das ist auch gut so. Aber ich habe in letzter Zeit einen Aspekt entdeckt, der mir gerade beim Thema Vergebung weiterhilft.

Aber zunächst habe ich erkannt, wieder einmal erkannt, dass nicht jede biblische Wahrheit in jeder Situation hilfreich ist. Mein Verständnis von Vergebung ist von jeher von zwei Wahrheiten geprägt. Als erstes ist die Schuld des Anderen meist viel kleiner, als ich es annehme. Sehr wenig von dem, was bei mir als böse ankommt, ist das Ergebnis böser Absicht. Manchmal ist Dummheit, Unachtsamkeit oder Nachlässigkeit die wahre Ursache, manchmal auch einfach nur andere Werte oder kulturelle Unterschiede. Die wenigsten Treffer auf meiner Seele sind gezielt. Es ist daher sicher nicht verkehrt, erst einmal von der besten Absicht auszugehen und möglichst gut von anderen Menschen zu denken.

Die zweite Wahrheit ergibt sich schon fast daraus und wurde schon eingangs erwähnt: Ich bin keinesfalls besser. Wie kann ich bei der mutmaßlich geringen Schuld des anderen nachtragend sein, wenn ich das Maß meiner eigenen Schuld gegenüber anderen auch nur halbwegs erkannt habe?

Beide Wahrheiten sind nicht nur offensichtlich wahr, sondern auch ganz offensichtlich sehr wichtige Aspekte des Themas Schuld und Vergebung. Es sind wichtige Erkenntnisse im Umgang mit anderen Menschen und mit mir selbst, sie stutzen mich auf ein realistisches Maß zurück und wehren Rechthaberei und Hochmut ab. Sie haben aber auch ihre Grenzen: Sie ermöglichen mir Vergebung nur auf Kosten des eigenen Ichs. Wahrheit Nummer eins verharmlost die Schuld an mir und Wahrheit Nummer zwei macht mir zusätzlich ein schlechtes Gewissen.

Was Vergebung für mich in der Praxis oft so schwer macht, sind meine verletzten Gefühle. Und Vergebung auf Grundlage dieser beiden Wahrheiten hilft mir gerade in diesem Punkt überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Sie erklärt die Unterdrückung dieser schlechten Gefühle zu meiner eigenen Aufgabe, meiner Verpflichtung, die ich allein aus menschlicher Kraft zu bewältigen habe. Das geht natürlich nur so lange gut, wie meine menschliche Kraft dafür ausreicht, und das ist bei weitem nicht lange genug.

Und es geht am Kern der Vergebung vorbei. Gottes Strategie ist nicht Verharmlosung, nicht Relativierung und erst recht nicht, uns ein möglichst schlechtes Gewissen zu machen. Gottes Strategie ist es, das Thema ein für allemal zu erledigen. Dafür starb Jesus am Kreuz. Dafür musste Jesus am Kreuz sterben. Das ist das absolute Gegenteil von Verharmlosung.

Nie wurde die Schuld der Menschen so offensichtlich so ernst genommen wie vor knapp 2000 Jahren auf Golgatha. Nie wurde so deutlich, wie ernst Gott dieses Thema nimmt, wie wenig er zu das ist ja nicht so schlimm oder das war ja keine böse Absicht oder das kann ja jedem mal passieren neigt. Jede einzelne Schuld ist in Gottes Augen so schlimm, dass sie nur gesühnt werden konnte, indem ein Unschuldiger dafür stirbt. Wie schon erwähnt, ich verstehe das nicht vollständig, aber trotz allem ist es offensichtlich so.

Ich habe schon lange begriffen, dass dies meine eigene Schuld betrifft, dass Jesus für mich sterben musste, dass es für mich sonst keine Vergebung, keine Rettung gegeben hätte. Erst allmählich begreife ich, was es heißt, dass Jesus auch für andere gestorben ist, dass er gerade auch für die gestorben ist, die an mir schuldig wurden. Er zeigt mir damit, wie bitter ernst er jede einzelne Schuld an mir, jede Verletzung, jeden Stich in meiner Seele nimmt. Er macht mir mehr als deutlich, dass es für ihn unter keinen Umständen akzeptabel ist, dass mir unrecht geschieht. Das Jesus für mich gestorben ist, zeigt seine unbegreiflich große Liebe für mich. Dass Jesus für die Menschen gestorben ist, die an mir schuldig geworden sind, zeigt diese Liebe nicht minder.

Das heißt auch, dass Jesus meine verletzten Gefühle sehr ernst nimmt, vielleicht ernster als ich selbst. Ich muss sie nicht relativieren oder unterdrücken. Ich kann sie in die Zuständigkeit dessen abgeben, für den sie mindestens ebenso wichtig sind wie für mich selbst. Für Gerechtigkeit ist letztlich allein Gott zuständig. Als Mensch bin ich höchstens sein Beauftragter in der Umsetzung, in den allermeisten Fällen nicht einmal das. Vergebung heißt nicht, dass ich Schuld leugne. Es heißt, dass ich die Zuständigkeit für die Sühne abgebe. Dazu brauche ich noch viel Übung, und ich werde lebenslang ein Lernender bleiben. Aber ich verlasse mich dabei nicht mehr auf meine begrenzte Kraft, Gefühle zu unterdrücken. Und dabei hilft mir, dass ich mich als Opfer ebenso von Gott ernst genommen fühle wie als Täter.

Schuldbekenntnis

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Bei dem Massaker in Orlando im US-Bundesstaat Florida am 12. Juni 2016 wurden 49 Menschen getötet und 53 verletzt. Damit ist es das folgenschwerste Attentat in den Vereinigten Staaten seit den Anschlägen vom 11. September 2001, der gravierendste einzelne Gewaltakt gegen Homosexuelle und eines der verheerendsten Massaker in der Geschichte des Landes.

So steht es heute, eine Woche danach, in der Wikipedia. Streng genommen sind es 50 Tote, der Attentäter wurde von der Polizei getötet. Ich möchte hier nichts verharmlosen, angesichts der ungeheueren Schwere seiner Schuld kann ich ihn nicht zu den Opfern zählen. Aber es erscheint wahrscheinlich, dass der abgrundtiefe Hass gegen Schwule und Lesben, der ihn zu dieser beispiellosen Tat getrieben hat, im Kern Selbsthass war.

Ein Anschlag dieses Ausmaßes wäre zurzeit wohl ohne einen gewissen islamistischen Hintergrund nicht denkbar, und was Hass und Gewalt gegen Schwule und Lesben betrifft, nehmen die islamischen Staaten zweifellos eine sehr traurige Spitzenposition ein. Aber Homophobie ist kein Phänomen, das sich auf den Islam beschränkt. Der Kampf gegen Ausgrenzung und Diskriminierung Homosexueller ist eine Menschenrechtsfrage, und die katastrophale Lage sexueller Minderheiten in islamischen Staaten ist Teil einer allgemein katastrophalen Menschenrechtslage in diesen Ländern.

In der westlichen Welt wird der Kampf gegen diese Menschenrechte vor allem mit christlichem Hintergrund geführt. Seit der Gleichstellung der Ehe vor knapp einem Jahr sind in den USA über 200 Bundesstaatsgesetze erlassen worden, die die Diskriminierung sexueller Minderheiten erleichtern oder sogar zum Inhalt haben. Es würde mich sehr wundern, wenn auch nur eines davon von einer muslimischen Interessengruppe durchgebracht worden wäre.

In Deutschland hat die Bundeskanzlerin Tage gebraucht, um die Zielgruppe des Massakers auch nur zu benennen. Zuvor hat sie von einem Anschlag auf die offene Gesellschaft geredet, von einer offene Gesellschaft, die für Schwule und Lesben auch in Deutschland in dieser Form nicht existiert. Frau Merkel hat sich in ihrer Amtszeit aktiv gegen diese offene Gesellschaft eingesetzt und musste sich dabei mehrfach vom Bundesverfassungsgericht über die Konsequenzen unserer freiheitlicher Verfassung bezüglich der Rechte Schwuler und Lesben belehren lassen.

Ansgar Hörsting, Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland und Präsident der Vereinigung evangelischer Freikirchen, empört sich nicht über den Anschlag an sich, sondern nur über zwei Kommentatoren, die einen solchen Anschlag auch aus dem evangelikalen Fundamentalismus heraus für möglich erachten. Angesichts 49 toter Schwulen und Lesben wendet er sich gegen die Diffamierung von Christen und fordert sie dazu auf, fröhlich ihren Glauben (an die Sündhaftigkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen) zu bekennen.

Was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Wer Ablehnung sät, wird Hass ernten. Wer Diskriminierung sät, wird Gewalt ernten. Auch Hass und Gewalt brauchen moralische Rechtfertigung, und Attentäter halten ihre Taten regelmäßig für berechtigt und sogar für gut. Das Massaker in Orlando hebt sich in seiner abgrundtiefen Schlechtigkeit weit ab von der alltäglichen Anfeindung und Diskriminierung, die Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle erfahren. Aber es wäre ohne diese Alltagsdiskriminierung nicht denkbar. In einer Gesellschaft. in der gleichgeschlechtliche Beziehungen von allen Seiten als normal und alltäglich angesehen werden, findet der Hass der Attentäter keinen Nährboden.

Deshalb bereiten auch Angela Merkel und Ansgar Hörsting den Nährboden für Hass und Gewalt, auch für Gewalttaten wie die in Orlando. Damit sind sie nicht allein. Auch ich habe meinen Beitrag zur Alltags-Homophobie geleistet und bin damit, wenn auch hoffentlich nur zu einem sehr geringen Maß, mitverantwortlich für die Tat und die Opfer. Und es wird höchste Zeit für mein Schuldbekenntnis:

Für zwanzig Jahre meines Lebens habe ich Schwulen und Lesben aktiv den Platz in der Mitte des gesellschaftlichen Lebens, vor allem des christlichen Lebens verweigert. Ich habe sie als krank bezeichnet und wirkungslose, gefährliche Therapien empfohlen. Ich habe ihre Beziehungsfähigkeit und moralische Integrität in Frage gestellt. Ich habe die Bibel verwendet, um gegen Menschenrechte, gegen Menschlichkeit, gegen Menschen vorzugehen. Ich habe Leiden verlängert, Verzweiflung hervorgerufen, Vertrauen auf Gott verhindert. Und bis heute mache ich mich der Sünde des Unterlassens schuldig. Ich setze mich zu wenig aktiv, zu wenig mutig gegen Diskreditierung und Diskriminierung der Randgruppe ein, der ich selbst angehöre.

Die meisten dieser Sünden richteten sich gegen mich. Es erleichtert mein Gewissen, dass ich selbst mein größtes Opfer war, es macht aber meine Worte und Taten nicht weniger schlimm, nicht weniger sündig. Und ich habe auch meine Meinungen und Überzeugungen verbreitet und Gleichgesinnte unterstützt. Auch wenn ich aus meiner Erinnerung kein konkretes Opfer meiner Taten benennen könnte: Das heißt nicht, dass ich nicht auch einzelnen Menschen konkret geschadet habe. Mit Sicherheit habe ich zur homophoben Stimmung in Gemeinde und Gesellschaft, zur Alltagshomophobie beigetragen. Und nicht zuletzt habe ich Gottes Güte zu wenig vertraut. Ich habe zu wenig vertraut, dass er Lösungen bieten kann, wo Menschen nur Gebote sehen, dass seine Größe, Kreativität und seine Liebe nicht durch meine Vorstellungskraft begrenzt wird. Ich habe, privat und öffentlich, Gott schlechtgemacht und seinen Ruhm geschmälert.

Ich bekenne meine Schuld, und ich bitte Gott und die LGBT-Community um Vergebung.