Gott ist der perfekte Realist. Er sieht alles in der Welt genau so, wie es ist, und bei ihm gibt es keine Täuschung, keinen Irrtum und vor allem kein Wunschdenken. Das ist bei uns Menschen nicht so. Unsere Wahrnehmung wird von einer Vielzahl an Faktoren beeinflusst und sehr oft auch getrübt. Man muss sich nur mal ein paar optische Täuschungen anschauen, um zu erkennen, wie sehr der angeblich einfache Vorgang des Sehens von Erwartungshaltungen und Gewohnheiten beeinflusst wird.
Wenn wir Gott wirklich ähnlicher werden wollen, gehört es dazu, dass unser Blick auf die Welt realistischer wird, dass wir Irrtum und Wunschdenken zurückdrängen. Und das gelingt nicht ohne die Anerkennung und Anwendung dessen, was wir Wissenschaft nennen. Denn insbesondere die Natur- und Humanwissenschaften haben in den letzten Jahrhunderten ausgefeilte Verfahren hervorgebracht, die unsere menschlichen Schwächen zu kompensieren versuchen und einen weitgehend realistischen Blick auf Natur und Mensch ermöglichen.
Sie erfüllen damit den Auftrag Gottes an Adam. Denn in 1. Mose, Kapitel 2, steht vor dem bebauen und bewahren das benennen. Adam – und damit die gesamte Menschheit – ist beauftragt, den Tierarten ihre Namen zu geben, sie zu kategorisieren und einzuordnen. Wissen über die Natur ist nicht nur die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Gestalten und Schützen, es stellt auch einen Wert an sich dar. Gott sieht die Schöpfung, wie sie ist, und wir sollten zumindest versuchen, dem nahe zu kommen.
Damit erfüllen die Natur- und Humanwissenschaften nicht nur den Schöpfungsauftrag Gottes, sie beschäftigen sich auch indirekt mit Gott, denn Gottes Wesen und Gottes Willen sind in der Schöpfung offenbart, wie Paulus an die Römer schreibt. Dass sie dabei Gott außen vor lassen, steht dazu nicht im Widerspruch, denn es ist methodisch notwendig und praktisch bewährt. Die Loslösung von Bibel und Glauben hat den atemberaubenden Erfolg moderner Wissenschaften erst möglich gemacht.
Auf dieses Konzept der Gewinnung von Erkenntnissen hat die Christenheit häufig mit Skepsis oder sogar Ablehnung reagiert. Die Bibel als Wort Gottes stünde über der Wissenschaft, so die Argumentation, und wenn beide uneins sind, müsse die Bibel recht behalten. Die entscheidende Frage ist aber, warum sie überhaupt uneins sein sollten.
Beide, Theologie und Naturwissenschaft, beschäftigen sich mit Betrachtung, Auslegung und Systematisierung der Offenbarung Gottes. Bibel und Schöpfung sind zwei getrennte, dem Wesen nach sehr unterschiedliche Offenbarungen Gottes, aber sie kommen aus derselben Quelle, und so wie ich die Quelle kenne, können sie gar nicht im Widerspruch zueinander stehen. Wenn also die Natur- und Humanwissenschaften zu Erkenntnissen kommen, die anscheinend der Bibel widersprechen, dann hat sich mindestens eine Seite geirrt. Und ich sehe keinen Grund zu der Annahme, dass dies immer die Wissenschaften sein sollen.
Ich will keineswegs behaupten, dass die Wissenschaft immer Recht habe. Der natur- und humanwissenschaftliche Erkenntnisprozess verläuft langsam, geht häufig im Zickzack und manchmal auch Irrwege. Das in den Medien oft verbreitete Bild der Wissenschaft, die schlagartig bahnbrechende, neue Erkenntnisse beschert, ist ein Mythos. Aber der realistische Blick in die Vergangenheit zeigt eindeutig, dass die wissenschaftliche Methodik auf Dauer zu erstaunlichen Erfolgen führt, dass sie manchmal sehr bahnbrechende und unerwartete, häufig sehr belastbare und zutreffende Erkenntnisse hervorbringt. Und das Christen, die sich gegen diese Erkenntnisse gesträubt haben, sich im Rückblick regelmäßig ziemlich lächerlich gemacht haben.
Die allermeisten echten Wissenschaftler wissen um die konkreten Schwächen ihrer Theorien. Daran sollte man sich als Bibelausleger ein Vorbild nehmen. Der Konflikt entsteht meist erst dann, wenn man von der Unfehlbarkeit der Bibel auf die Unfehlbarkeit des Auslegers schließt. Das aber ist keine geistliche Position, das ist Überheblichkeit, das ist menschliche Hybris. Ein Bibelausleger, der wissenschaftliche Erkenntnis ignoriert oder gar als feindlich ansieht, beraubt sich damit nicht nur eines wichtigen Weges zur Erkenntnis Gottes, er beraubt sich damit auch eines wichtigen Korrektivs seiner eigenen Arbeit.
Es geht hier um Warnsignale, um Indizien, dass eine gewohnte Auslegung der Bibel falsch sein könnte und sie dringend gründlich überprüft werden müsste. Und wenn eine Bibelauslegung im krassen Widerspruch zur gefestigten wissenschaftlichen Meinung steht, dann müssten eigentlich für den sorgfältigen Bibelausleger sämtliche Warnglocken läuten, so dass man schon fast taub davon würde. Gott sieht die Schöpfung genau so, wie sie ist. Wenn wir das auch wollen, sollten wir alle Möglichkeiten menschlicher Erkenntnisfähigkeit nutzen. Und wenn wir das richtig gut machen, wird so etwas wie ein Widerspruch zwischen Wissenschaft und Bibel gar nicht erst auftreten.
Oft entzündet sich der vermeintliche Widerspruch von Bibel und Wissenschaft an Fragen zur Schöpfung. Die Gedanken des Beitrags decken sich mit meinen im allgemeinen und zu dieser konkreten Frage:
Geologische und archäologische Funde liefern ein (trotz aller offenen Fragen) so stimmiges Bild, dass ich derzeit nur zwei Alternativen innerhalb des Glaubens an den Schöpfer sehe:
Die Schöpfung verlief deutlich komplexer als uns die Schöpfungsgeschichten vermitteln, d. h. sie sind größtenteils nicht wörtlich zu verstehen, keine Berichte.
Oder Gott hat für aufmerksam beobachtende und vernünftig denkende Menschen falsche Fährten en masse zugelassen bzw. sogar gelegt.
Die zweite Alternative scheint mir so sehr im Widerspruch zu Gottes Wesen wie in Jesus offenbart, dass ich sie für schwerlich akzeptabel halte.
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